Unser Umzugswagen kam mit einem lauten Quietschen vor einem kleinen, süssen Haus zum Stehen. Seit ich vor fünf Minuten aus einem Tiefschlaf erwacht war, war ich voller neuer Energie und schwang die Autotür auf. Als ich in die frische Luft hinaustrat, war ich froh, mich endlich mal wieder strecken zu können. Vierundvierzig Stunden lang in einer kleinen Blechbüchse zu verbringen, war für mich die reinste Hölle. Ja genau, vierundvierzig Stunden. Von New York nach Kalifornien. Wir hatten zwar zwei Pausen in Colorado und in Illinois eingelegt, aber es war immer noch zu lange. Unser Ziel war eine „kleine" Stadt namens Kinnetyville mit knappen sechstausend Einwohner. Für manche Leute war es vielleicht wirklich eine Kleinstadt, aber wenn man vorher in einer Stadt mit 8,5 Millionen Einwohnern gewohnt hatte, war es kleiner als klein. Wahrscheinlich wird es eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Der einzig nächste grössere Ort – Sacramento - war zweieinhalb Stunden Autofahrt südlich entfernt.
Mein Dad und ich waren zusammen in einem Umzugswagen gereist und meine Mom mit meinem fünfzehnjährigen Bruder Jason in unserem normalen Auto. Dad war anscheinend an manchen Stellen zu schnell gefahren, denn Mom und Jason waren noch nicht angekommen.
Als meine Eltern mir mitgeteilt hatten, dass wir umziehen würden, war ich zuerst nicht so begeistert gewesen. Bin ich eigentlich immer noch nicht ganz, aber ich hätte sowieso nichts daran ändern können. Ich hatte Freunde, spezielle Orte in New York und damit verbundene Erinnerungen, die ich nicht verlieren wollte. Ich hatte ein Leben in New York und nichts davon - abgesehen von meiner Familie - war hier. Noch nicht.
Mom und Dad hatten zusammen ein gutes Jobangebot als Ärzte bekommen und da Mom der Meinung gewesen war, dass mir ein Neustart auch gut tun würde, war es beschlossene Sache gewesen. Und auf eine Art und Weise hatte sie Recht. Ich hätte es geschafft in New York weiter zu machen, aber es wäre einfacher gewesen, es irgendwo zu tun, wo mich nicht praktisch alles an den schlimmsten Tag meines Lebens erinnerte.
Und als ich unser neues Haus sah, machte es mir ein Stück weniger aus, nicht mehr in New York zu sein. Es war einfach nur ein Traum. In meiner alten Heimat quetschten wir uns lange noch zu fünft in eine kleine Wohnung. Bis vor einem Jahr hatte mein grosser Bruder Adam noch mit uns gewohnt. Als es für ihn aufs College ging, hatten wir wenigstens ein bisschen mehr Platz gehabt, aber es war immer noch zu eng gewesen.
Ein kleiner Steinweg schlängelte sich durch einen schönen, gepflegten Garten zu einer kurzen Treppe, die zur Eingangstür führte. Das kleine Haus war hellgelb gestrichen und machte einen freundlichen, einladenden Eindruck. Wir hatten das Eckhaus und auf der rechten Seite standen noch vier weitere Häuser, die genau gleich aussahen wie unseres, nur dass sie in einer anderen Pastellfarbe gestrichen waren. Gleich links neben meinem neuen Zuhause grenzte der Wald aus unzähligen Bäumen an (es befand sich ganz am äusseren Rand von Kinnetyville). Ich drehte mich um und sah, dass auf der anderen Seite der Strasse auch fünf Häuser nebeneinander standen.
Ich bemerkte, dass Dad ebenfalls aus dem Auto gestiegen war und sich neben mich gestellt hatte. „Herzlich Willkommen in deinem neuen Zuhause", meinte er und nahm mich lächelnd in eine Umarmung. Überrascht von der lieben Geste erwiderte ich sie ein bisschen spät. Solche Liebkosungen waren bei meiner Familie selten. Früher hatte es mich verletzt, aber wenn man siebzehn war, war man sowieso nicht mehr so scharf auf Umarmungen und Ähnliches von den Eltern. Ich hatte es mir damit erklärt, dass es daran lag, da wir alle adoptiert waren. Sie werden uns nie so fest lieben, wie wenn wir ihre leiblichen Kinder wären. Aber wie gesagt; ich hatte mich daran gewöhnt. Man gewöhnte sich an alles. Und ich hoffte, dass es mit diesem Neustart in Kinnetyville genauso war.
„Sollten wir noch auf Mom und Jason warten oder gehen wir schon rein?", fragte ich meinen Vater.
„Keine Ahnung, wann sie ankommen, und bevor wir unter dieser prallen Sonne verschmachten, gehen wir besser schon mal rein", antwortete er mir.
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Die Tochter des Todes
FantasySeit ich in Kinnetyville lebte, hatte sich mein ganzes Leben verändert. Am Anfang dachte ich, ich würde einfach mein ganz normales Teenager-Leben weiterleben. Doch dann erfuhr ich, dass ich von einem griechischen Gott abstammte. Also hatte ich neben...