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„Du... du solltest schlafen", sagte er und versuchte das Zittern seiner Stimme zu überspielen.

„Ich kann nicht schlafen." Ich setzte mich auf die Couch.

„Alles okay?", fragte ich behutsam.

„Ja, ja klar", antwortete er schnell und fuhr sich über die Augen. Ich hob kritisch eine Augenbraue. „Naja, eigentlich nicht", gab er dann doch zu. Er kam auf mich zu und setzte sich neben mich auf die Couch.

„Ist es wegen deiner Mom?", sprach ich meine Gedanken aus. Er schaute mich lange an und liess sich Zeit mit seiner Antwort.

„Indirekt. Wegen meinem Vater", erklärte er und schaute mir wieder in die Augen. Das Mondlicht beschien seine linke Gesichtshälfte. Die Narbe neben seinem Auge trat besonders hervor. Ich hatte noch nie irgendetwas von seinem Vater gehört. Ich schaute ihn fragend an, wollte aber nicht direkt fragen, ob er darüber reden wollte. Musste ich auch nicht, denn er fing von alleine an.

„Ich war zehn Jahre alt gewesen. Mein Leben lief gut. Wir lebten in einem grossen Haus im reichen Stadtviertel. Wir waren noch eine Familie. Mein ältester Bruder ging schon aufs College und lebte nicht mehr bei uns. Mein zweitältester Bruder würde in ein paar Monaten gehen und mein letzter Bruder in einem Jahr. Mein Vater hatte lange einen richtig guten Job. Er verdiente richtig viel und arbeitete für sein Leben gern dort. Meine Mom arbeitete damals schon in dem einen Restaurant und wir waren eine perfekte kleine Familie gewesen. Wir hatten übrigens alle seine Hermeskräfte geerbt. Aber dann wurde mein Dad gefeuert. Sie hatten jemand besseren gefunden. Und das machte aus ihm einen ganz anderen Menschen. Er stürzte sich in den Alkohol. Er schrie alle an. Er drängte meine Mutter immer mehr zu arbeiten, dass wir das Haus behalten konnten. Er hatte nichts mehr zu tun und das machte ihn irgendwie wahnsinnig. Wir wussten, dass wir vorsichtig sein mussten, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Aber ich war schon damals nicht gut in der Schule gewesen. Meine Brüder waren alle Genies, aber ich interessierte mich nur für Sport. Eines Tages kam ich halt wieder mit einer schlechten Note nach Hause. Meine Mutter war arbeiten, meine Brüder im Ausgang. Er schrie mich an, dass ich zu nichts nützig wäre, dass ich mich verdammt nochmal verbessern sollte, weil sonst aus mir das Gleiche werden würde wie aus ihm. Man würde jemanden Besseren finden. Ich schaute ihn bloss mit grossen Augen an und war unfähig irgendetwas zu tun. Das war das erste Mal, als er..." Josh machte eine Pause und schaute von seinen Händen zu mir. Dann kehrte er mir den Rücken zu und zog sein Shirt über den Kopf. Mir stockte der Atem gleich, wie das erste Mal, als ich seinen Rücken gesehen hatte. Ich hatte noch nie so viele Narben auf so wenig Platz gesehen. Sein ganzer Rücken musste offen gewesen sein.

„Er kam nachher jeden Abend wieder. Wenn mal jemand sonst Zuhause war, wartete er bis tief in die Nacht ab und weckte mich. Unsere Wände waren schalldicht. Er würde solange kommen, bis er eine gute Note sehen würde. Ich habe es nie geschafft. Er sagte, dass wenn ich es jemandem sagen würde, dass es dann nur noch schlimmer werden würde und ich habe ihm natürlich geglaubt. Ich tat alles, dass es niemand bemerkte. Ich band alte Schäle um meinen Oberkörper, dass das Blut nicht auf meine Sachen durchdrückte. Auch meine sportliche Leistung wurde natürlich viel schlechter. Aber es machte mir sowieso nichts mehr Spass. Ich hatte riesige Angst und getraute mich nie irgendetwas gegen ihn zu unternehmen, da er sowieso viel stärker war als ich. Er hatte mich immer nur auf dem Rücken verletzt, so dass es niemand sehen konnte. Es hatte ihn auf eine merkwürdige Art befriedigt. Er wurde immer verrückter. Ich musste bei jedem Schlag mitzählen. Umso mehr Schmerzen ich hatte, desto mehr hatte es ihm gefallen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jemals aus dieser Situation rauskommen würde. Eines Tages aber kam mein Bruder gerade im richtigen Zeitpunkt nach Hause. Er sah es und mein Vater realisierte auch, dass er aufgeflogen war. Für einen Moment waren alle zu geschockt gewesen, um etwas zu unternehmen, aber mein Vater fing sich zuerst und sein Gürtel traf mein Gesicht. Mein Bruder ist dann ohne zu Zögern dazwischen gestanden und hat auch ein paar Schläge abbekommen, bevor er ihn ganz stoppen konnte. Er schlug ihn gekonnt bewusstlos. Er hat nachher sofort unsere Mutter und einen Krankenwagen gerufen. Ich lag vier Tage im Krankenhaus und sie mussten einiges nähen, was man schon vor langer Zeit hätte nähen sollen. Mein Vater ist abgehauen, als wir im Krankenhaus waren. Ich erzählte alles der Polizei und sie versuchten ihn zu finden. Er wurde nie gefunden. Man könnte meinen, nachdem mein Vater weg war, würde alles wieder besser werden, aber das war nicht der Fall. Mein Bruder kümmerte sich so gut, wie es ging, um mich, aber er hatte so viel zu tun wegen seinen Abschlussprüfungen. Meine Mutter war total überfordert gewesen. Sie stürzte sich noch mehr in ihre Arbeit und hat mich praktisch komplett ignoriert. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mich jetzt behandeln sollte. Sie hatte trotz allem ihren Mann vermisst. Sie wollte, dass er zurückkam, gleich was er mir angetan hatte. Der Einzige, der für mich da gewesen war, war Ace. Ich verbrachte praktisch die ganze Zeit bei ihm. Er war damals schon so schlau gewesen und wusste genau, was er sagen und tun sollte. Ich bin ihm so dankbar. Als mein Bruder dann aufs College ging, zogen meine Mutter und ich hierher. Sie kümmerte sich aber genau gleich wenig um mich wie vorher. Sie suchte auch Zuflucht beim Alkohol und ich verstand nicht, warum sie so traurig war. Irgendwann realisierte sie dann, dass mein Vater nie zurückkommen würde und sorgte sich plötzlich um mich. Aber ich wollte ihre Sorge nicht mehr, vier Jahre lang hatte es sie auch nicht gekümmert. Also lernte ich schon ziemlich früh, alleine durchzukommen. Das einzig Positive an der Geschichte. Aber du kannst dir denken, dass ich alleine auch ziemlich schnell Erfahrungen mit Alkohol, Drogen und Sex gemacht habe." Seine Stimme klang so bitter. Er zog sein T-Shirt wieder an und fuhr sich durch die Haare.

„Oh Josh, das ist schrecklich. Niemand sollte so etwas erleben", sagte ich sanft zu ihm, da ich sonst nicht wusste was sagen. Das machte mich wirklich sprachlos.

„Ich habe es akzeptiert. Ich hatte es verdient..."

„Hey, sag das nicht", unterbrach ich ihn. Er hatte dieses Schicksal definitiv nicht verdient.

„Nein, ich hatte das verdient. Ich war so schlecht in der Schule, aber nicht einmal das konnte was daran ändern. Er hat Recht, es wird einmal nichts aus mir werden. Er würde sagen, dass das Ganze nichts gebracht hat, aber da hätte er Unrecht. Ich habe gelernt, nie meine wahren Gefühle zu zeigen, man wird sonst nur verletzt. Mein Vater war ein Held, ein Vorbild für mich gewesen und ich habe ihm vertraut. Auch meiner Mutter. Und naja, du kannst dir denken, dass ich niemanden mehr an mich ranliess. Und eigentlich hatte ich es bis jetzt ganz gut geschafft." Er seufzte und schaute schwerschluckend auf seine Hände.

„Ich habe akzeptiert, dass mein Vater mich geschlagen hat, dass er wahnsinnig wurde. Aber das, was aus meiner Mutter geworden ist, kann ich einfach nicht akzeptieren. Sie hat bloss an sich selber gedacht. Vorher hatten wir eine so gute Beziehung gehabt, aber das ist damit auch einfach verschwunden. Ich hätte in dieser Zeit so sehr eine Mutter gebraucht, aber sie war nicht da. Und deswegen vertraue ich ihr heute immer noch nicht, so sehr ich wünsche, ich könnte."

„Aber es scheint ihr richtig leid zu tun. Ich habe gemerkt, wie traurig sie war, als du sie vorhin so abgewiesen hast."

„Nur, weil es ihr leidtut, macht das ihre Taten – oder bessergesagt Untaten – nicht rückgängig."

„Aber du möchtest deine Mutter ja wieder zurück, also wieso gibst du ihr nicht noch eine Chance und verzeihst ihr?"

„Und wer garantiert mir, dass sie nicht nochmals das Gleiche macht und ganz aus meinem Leben verschwindet? Ich will eigentlich niemandem wieder die Chance geben, mich zu verletzen. Und es wäre ein Risiko, sie wieder in mein Leben zu lassen, ich wäre verletzbar. Das ist genau das, was ich vermeiden möchte." Solche Worte taten mir im Herzen weh.

„Ja, wahrscheinlich ist es ein Risiko, aber denk daran, wie schön es sein könnte, wenn du ihr vergibst. Ich bin mir sicher, sie würde ihr Bestes geben und keine Möglichkeit zulassen, dass du verletzt werden würdest."

„Vielleicht hast du Recht. Keine Ahnung. Es ist zu spät, um das zu entscheiden." Er lehnte sich nun auch an der Sofalehne an und schaute aus dem Fenster. Eine Zeit lang sassen wir schweigend nebeneinander und waren in unseren Gedanken versunken.

„Hast du noch Kontakt zu deinen Brüdern?", fragte ich interessiert. Ich wollte wissen, ob er noch irgendjemand von seiner Familie hatte.

„Mit Jonah noch ein bisschen. Er ist der zweitjüngste und der Einzige neben Ace, der sich um mich gesorgt hat. Er hatte sich immer schlecht gefühlt, weil er so viel lernen musste und nicht viel Zeit für mich hatte. Aber ich war ihm schon unendlich dankbar dafür, dass er meinen Vater aufgehalten hatte. Als er aufs College ging, rief er mich oft an. Er erkundigte sich immer, wie es mir ging. Wir haben regelmässig telefoniert, aber in letzter Zeit ist auch das weniger geworden."

Ich sagte nichts mehr und wartete ab, ob er noch irgendetwas loswerden wollte. Wir schwiegen wieder lange, aber ich wollte nicht weggehen. Eine Frage brannte mir aber noch auf der Zunge.

„Wieso traust du mir das alles an? Es scheint nicht so, als würdest du das jedem erzählen."

Er drehte seinen Kopf zu mir und schaute mir in die Augen.

„Weil ich dir vertraue. Verdammt, ich habe keine Ahnung wie das passiert ist, aber ich vertraue dir. Und ich möchte, dass du weisst, dass du mir auch vertrauen kannst. Denn deine Seele wurde auch irgendwie gebrochen und... falls du jemanden zum Reden brauchst. Leute, die auch eine schwere Vergangenheit hatten, verstehen den anderen besser, als Leute, die ein wunderschönes Leben haben." Er schaute mir immer noch in die Augen und ich konnte sagen, dass er jedes Wort ernst meinte. Ich wandte den Blick ab und biss mir auf die Lippe. Ich hatte mir eigentlich geschworen, dass ich nie mehr darüber sprach. Da in New York es alle wussten, wurde ich nur schräg oder mitleidig angeschaut. Aber ich wusste, es würde nichts daran ändern, wie Josh mich sah. Er war wahrscheinlich einer der wenigen, die mich verstehen konnten. Ausserdem wäre es gut, wenn jemand hier wusste, was in New York passiert war. Jetzt wussten meine Freunde sowieso, dass meine Seele gebrochen war, aber ich wollte es nicht allen erzählen. Ich schaute zu ihm und es fühlte sich einfach richtig an. Ich holte tief Luft und begann zu erzählen. 

Die Tochter des TodesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt