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Ich schaute verzweifelt die blöden Mathe Aufgaben an. Ich sass jetzt sicher schon eine Stunde vor diesen Exponentialansätzen und verstand immer noch nichts. Meine letzte Hoffnung war Ace. Wie abgemacht kam er nachher hierher. Meine Eltern hätten es sicher nicht zugelassen, aber da sie noch arbeiten waren, mussten sie ja nichts davon wissen. Da ich aber kein grösseres Risiko eingehen wollte und nochmals rausgehen, falls sie unerwartet nach Hause kommen würden. Ace würde es notfalls auch durch das Fenster schaffen.

Schon logisch, dass ich keinen Schritt weiter kam, wenn meine Gedanken immer wieder zu gestern abschweiften. Ich fragte mich die ganze Zeit, was ich gemacht hatte, das Jason so verletzte. Wir hatten eigentlich keine Geheimnisse voreinander. Naja, das Einzige, was er nicht wusste, war das ganze krasse, übernatürliche Götterzeug. Aber es gab eigentlich keine Möglichkeit, wie er das irgendwie herausfinden hätte können. Und es wäre mir wirklich lieber, hätte er gar nichts mit dieser Welt zu tun, da sie nicht ganz ungefährlich war.

Aber wie sollte er etwas damit zu tun haben?

Ich seufzte. Meine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis. Ich hatte heute Morgen nochmals versucht mit ihm zu sprechen, aber es war auch nicht besser verlaufen, als gestern. Ich vermisste unser gutes Verhältnis jetzt schon. Aber ich war noch nicht bereit aufzugeben.

Die Türklingel holte mich aus meinen Gedanken. Schnell schloss ich meinen offenen Stift und eilte nach unten.

„Hey", begrüsste ich ihn, nachdem ich die Türe geöffnet hatte.

„Hi", sagte auch er schüchtern lächelnd und trat ein. Er fuhr sich durch seine blonden Haare und schaute sich um.

„Ähm ja, unser Haus ist nicht so spektakulär", meinte ich und stieg auf die erste Treppenstufe.

„Es ist so komisch, da ich den Bau dieses Hauses von Silas kenne, aber es einfach anders eingerichtet ist", erklärte er und lächelte schief.

„Ach ja stimmt."

„Wie war gestern das Training?", fragte er interessiert nach, während wir die Treppen hochgingen.

„Gar nicht mal so schlecht. Ich kann jetzt die Kraft anzapfen, ich muss nur noch lernen, wie ich sie gebrauche."

„Oh, sehr gut."

Wir gingen in mein Zimmer und machten uns erstaunlicherweise sofort an die Arbeit. Zuerst kümmerten wir uns um Mathe. Er musste mir leider von Anfang an alles erklären, da ich noch nie etwas verstanden hatte. Und als wir beim letzten Hefteintrag angelangt waren, hatte ich es wirklich kapiert. Er konnte wirklich gut erklären. Miller sollte sich ein Beispiel an ihm nehmen, echt. Wir lösten zusammen die Hausaufgaben, wobei ich seine Hilfe fast nicht mehr brauchte. Als wir diese auch geschafft hatten, gingen wir wieder runter, um etwas zu trinken. Nach Mathe ist mein Hirn immer ausgebrannt.

Ace' Blick fiel auf Jasons Gitarre, die hinter dem einen Sessel an der Wand stand.

„Spielst du?", fragte er überrascht.

„Nein, mein Bruder." Er stand auf und nahm sie in die Hände.

„Aber du spielst, oder?", fragte ich nach, obwohl ich die Antwort schon kannte. „Ja", bestätigte er.

Er setzte sich neben mich auf die Couch und strich einmal über die Saiten.

„Spiel mir was vor", forderte ich ihn auf. Er schaute von der Gitarre hoch zu mir. Eine blonde Strähne fiel ihm in die Stirn und ich unterdrückte den Drang sie wegzustreichen. Seine langen, dichten Wimpern, die seine wunderschönen Augen umrahmen, warfen Schatten auf seine Wangen. Das helle Eisblau seiner Augen wirkte noch heller, da die Sonne in sein Gesicht schien. Ich konnte sogar ganz feine Sommersprossen um die Nase erkennen. Lange und intensiv schauten wir uns dann einfach in die Augen und ich konnte nicht leugnen, dass mein Herz etwas schneller zu klopfen anfing.

„Welches Lied?", fragte er dann und senkte sein Blick wieder auf die Gitarre.

„Irgendeines. Das, welches du als letztes gespielt hast", antwortete ich ihm. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Er zupfte sanft die Saiten der Gitarre und schon nach den ersten zwei Noten erkannte ich das Lied. Er stimmte das Intro von Let Her Go von Passenger an. Es war eines meiner Lieblingslieder, obwohl es schon ziemlich alt war. Was für ein Zufall, dass er genau das spielte. Ich schaute ihn an, als ob er eine Antwort darauf hätte. Sein Blick war immer noch auf die Gitarre gesenkt. Mein Augen wanderten auch runter zur Gitarre.

Als der eigentlich gesungene Teil begann, fing er leider nicht an zu singen. Aber diesen Teil übernahm ich gerne. Als ich zum zweiten Vers einstieg, schaute er kurz verwundert zu mir und hätte fast vergessen weiter zu spielen. Ich schloss aber kurz die Augen, sonst traf ich die Töne nicht. Ich hatte fünf Jahre lang Gesangsstunden genommen, weswegen ich mich inzwischen getraute vor anderen zu singen.

So sassen wir zusammen auf der Couch, er spielend und ich singend. Es war ein einfacher, aber wunderschöner Moment, den ich aus vollen Zügen genoss. Das Lied hatte sonst schon eine extrem beruhigende Wirkung auf mich, und wenn er es spielte, war es noch tausend schöner.

Als er ein letztes Mal über die Gitarre strich, schwieg ich wieder und schaute ihm bloss zu. Er blickte nach dem letzten Ton auch zu mir. Nach einem Moment sagte er dann leise: „Du singst wunderschön."

„Du spielst wunderschön", meinte ich lächelnd. Er lächelte auch und sah mir tief in die Augen.

Erst jetzt bemerkte ich, wie nahe wir uns waren. Sein rechtes Bein berührte mein linkes und ich konnte seinen regelmässigen Atem spüren. Seine wunderschönen Gesichtszüge waren entspannt. Sein Blick löste sich von meinen Augen und huschte zu meinen Lippen. Ich hatte das Gefühl, er müsste mein Herz klopfen hören, so schnell schlug es jetzt. Auch mein Blick wanderte zu seinem unglaublich schön geschwungenen Mund. Als sich unsere Blicke wieder trafen, lag etwas anderes in seinem Blick, was ich vorhin noch nie gesehen hatte. Begehren. Aber auch Unsicherheit.

Er kam mir langsam näher, der Blick wechselte von meinen Lippen zu meinen Augen. Als er nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war, legte ich meinen Kopf etwas schief und überbrückte den letzten Abstand zwischen uns. 

Die Tochter des TodesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt