Kapitel 32

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"Verdammte Scheisse! Muss ich das tragen?" maule ich. Julia steht neben mir und schüttelt den Kopf.
Es ist Samstag Vormittag. Gestern Abend hat Blake mir eröffnet, dass der Vater des Betas dieses Rudels heute seinen 65. Geburtstag feiert. Da findet natürlich ein großes Fest statt. Und auf diesem Fest werden auch Blakes Eltern sein. Man möge sich an sie erinnern: das waren die, die ich bei unserem letzten Treffen sehr ausgiebig angemotzt hatte, nachdem sie mich beleidigt hatten. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Das werde ich erst heute wieder. Bei einer großen Veranstaltung mit mindestens fünf Dutzend anderen Leuten, die genauso gestrickt sind wie sie.

Na toll! Womit habe ich das denn wieder verdient? Allein schon der erste Teil von Blakes Ankündigung ließ mich missmutig werden. Darin hieß es, die Party fände im örtlichen Golfclub statt. In Idaho habe ich mal im Golfclub gearbeitet, allerdings nur für zwei Wochen. Länger hätte ich es beim besten Willen nicht ausgehalten! Alle Gäste dort waren ausnahmslos stinkreich, hochnäsig und versnobt!
Und dann auch noch Blakes Eltern! Das kann ja heiter werden! Ich hoffe, ich werde dem Drang, mich aus dem Fenster zu stürzen, widerstehen können.

Jedenfalls ist Julia heute morgen zu uns gekommen und hat mir erklärt, dass ich ein passendes Outfit für die Feier brauche. Ich habe ihr daraufhin meinen Kleiderschrank gezeigt. Sie hat ihn sich angesehen, mich dann gefragt, wo der Rest meiner Klamotten wäre und als ich sagte, das seien alle, war sie zutiefst entsetzt.

Deshalb bin ich jetzt in einem Klamottenladen, der sehr fancy aussieht und Julia versucht, mir 'passende' Kleidung anzudrehen. Nur, leider gefallen mir die Kleider, die sie mir vorschlägt nicht. Wir sind jetzt seit mindestens einer Stunde im Laden und haben bisher nur ein Kleid gefunden, das wir beide gut fanden. Und das ist angeblich nicht für so eine Feier geeignet, sagt Julia. Weil es schwarz und 'zu kurz' ist.

Das Kleid, das ich jetzt gerade anhabe, ist rosa und hat eine lila Schleife um die Mitte. Was für sich gesehen schon ein Grund wäre, es nicht zu mögen. Julia steht neben mir und seufzt. Das hat sie seit wir den Laden betreten haben schon öfter getan.
"Ach Merry, mein Schatz! Wenn das so weitergeht, sind wir bis heute Nachmittag noch nicht fertig." sagt sie. Ich beiße mir auf die Lippe. Da könnte sie Recht haben. Aber vielleicht gibt es ja doch noch eine Lösung. Hier ist offensichtlich ein Strategiewechsel nötig. Ich überlege, wie wir das Ganze eventuell anders angehen könnten.

Da fällt mein Blick auf die Aushilfeverkäuferin. Sie ist etwa in meinem Alter und hat kurze schwarze Haare. Außerdem sehen ihre Jeans genauso aus wie meine. Oh ja, perfekt! Ich gehe zu ihr hin und spreche sie an.
"Hey, du, kann ich dich mal kurz stören? Ich brauche ein Kleid für diese versnobte Geburtstagsparty heute Nachmittag und irgendwie habe ich Probleme, eins zu finden. Könntest du vielleicht helfen?"
Sie schaut mich überrascht an. Schließlich sagt sie: "Ja, ich hätte da eine Idee.". Sie stellt sich vor mich und erklärt mir ihre Idee. Dabei gestikuliert sie viel und bewegt ihren Körper, während sie redet.

"Also: wenn deine Freundin etwas vorschlägt, gefällt es dir meistens nicht. Wie wäre es also, wenn ihr die Rollen tauscht: du suchst dir etwas aus, was dir gefällt und wovon du glaubst, dass es auf diese Spießparty passt. Und deine Freundin sagt dir dann, ob es auch wirklich passt und wenn nicht, warum es nicht passt."
Ich sehe sie freudig an. "Das ist eine sehr gute Idee! Danke!" sage ich lächelnd. "Wie heißt du eigentlich?" Sie erwiedert mein Lächeln nicht, antwortet aber: "Evangeline. Die Leute nennen mich Eve.".
"Freut mich, dich kennen zu lernen. Ich bin Mercedes. Aber meine Freunde nennen mich Merry."
Eve sieht mich ausdruckslos an. Ich erwiedere ihren Blick, ruhig, ohne wegzusehen.

Schließlich seufzt sie. Dann verengt sie die Augen und sagt: "Okay, neue Luna, eine Frage: wieso denkst du, dass du hier die Luna sein solltest?"
Ich stämme die Hände in die Hüften und atme einmal tief aus, bevor ich antworte: "Ich denke zumindest, dass es definitiv schlimmere Lunas gibt als mich. Ich bin vielleicht ein Mensch, aber das ist kein Nachteil! Im Gegenteil." An dieser Stelle hebt Eve überrascht die Augenbrauen. "Da ich ein Mensch bin, wurde ich bisher oft als minderwertig empfunden. Ein Zustand, den ich niemandem zumuten würde. Daher lege ich Wert darauf, jeden gleich zu behandeln, egal ob Wolf oder Mensch und unabhängig vom sozialen Status." beende ich meine Begründung. Natürlich könnte ich sie noch viel weiter ausführen und noch stundenlang über das Lunasein und das Rudel reden, aber wie sich gerade herausstellt, ist das gar nicht nötig.

"Mein Gott, du hast Recht! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Bisher hatten wir ja immer nur hochrangige Werwölfe als Lunas. Dabei wurden Menschen oder Werwölfe von niedrigem Rang gar nicht beachtet. Aber mit einem Mensch als Luna..." an dieser Stelle breitet sich ein sehr großes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie nimmt mich an der Hand und zieht mich zu einer Stange voller Kleider.

"Ich glaube, ich habe vorhin verstanden, wie dein Geschmack aussieht. Ein passendes Kleid für dich finden wir gemeinsam doch in Null komma Nix." sagt sie grinsend.

Eine halbe Stunde später ziehe ich Julia und Eve in das Café, in dem ich neulich schon einmal mit Julia gewesen bin. In meiner Hand halte ich eine Tüte mit vier Kleidern, die nicht nur wunderschön sind, sondern sich auch bestens für spießige Anlässe eignen. Schöne neue Kleider und eine neue Freundin.

Das nenne ich mal einen Hauptgewinn.

Die LunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt