Kapitel 40

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Eigentlich dachte ich es sei nichts Besonderes, dass ein neuer Kunde den Laden betritt. Aber jetzt, wo ich Eves verstörten Gesichtsausdruck sehe, drehe ich mich dann doch einmal um.

Die Person, die gerade den Laden betreten hat, ist eine junge Frau mit langen, kupferfarbenen Locken und blauen Augen. Ich schätze sie auf Anfang oder Mitte 20, also in etwa so alt wie Eve und ich. Außerdem trägt sie einen teuer aussehenden Trenchcoat mit edlen Pumps und Diamantohrringen. Sie wirkt edel, aber nicht aufgetakelt. Und besonders arrogant wirkt sie auf mich auch nicht.

Aber das ist nicht das eigentlich Interessante an ihr. Nein, das Interessanteste bei der ganzen Sache hier ist die Tatsache, dass Eve sie gerade mit einem derart gepeinigten Ausdruck auf dem Gesicht anstarrt, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Gleichzeitig wirkt die Kundin so, als würde sie versuchen, Eve nicht anzusehen, aber das mag nicht so recht klappen. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung stehen Eves dabei um nichts nach was versteinert und gepeinigt angeht.

Also, eins ist klar: irgendwas stimmt hier nicht! Ich kann nur nicht erkennen, was das ist. Ich kann nämlich leider keine Gedanken lesen. Allerdings finde ich, dass die Spannung zwischen den beiden langsam unerträglich wird, also entscheide ich mich, etwas zu sagen.

"Guten Tag. Eve, magst du uns vielleicht einmal vorstellen?" beginne ich, möglichst höflich. Eve antwortet mir, ohne den Blick von der jungen Frau abzuwenden.

"Merry, das ist Ashley Houston. Du kennst ihren Großvater, Geoffrey Houston." sagt beherrscht. Sie klingt allerdings sehr gepresst und bitter.

Ashley kommt ein paar Schritte weiter in den Laden. "Guten Tag, Luna. Guten Tag, Evangeline. Ich möchte gar nicht lange stören, ich wollte nur für meine Schwester ein paar Besorgungen abholen. Sofern die schon angekommen sind, meine ich." sagt sie, wobei sich an ihrer Haltung nichts ändert. Sie wirkt immernoch angespannt. Und irgendwie schuldbewusst?!?

Eve verschwindet in einen Nebenraum. Kurz darauf kommt sie mit einer Pappkiste zurück.
"Hier, die Bestellung für deine Schwester. Zumindest die Röcke. Die Schuhe dazu sind leider noch nicht da." sagt Eve. Mittlerweile starrt sie Ashley aber nicht mehr an, sondern vermeidet es, auch nur in ihre Richtung zu sehen.

"Das ist schon in Ordnung, danke." sagt Ashley, die es ihrerseits vermeidet, Eve anzusehen. Sie nimmt die Röcke, bezahlt und beeilt sich dann, den Laden wieder zu verlassen. Im Rausgehen murmelt sie noch: "Danke nochmal. Schönen Tag noch, Evangeline. Ihnen auch, Luna.". Dann ist sie auch schon wieder weg.

Eve presst sich eine Hand auf den Bauch und stützt sich mit der anderen auf dem Verkaufstresen ab. Sie lässt ein gequältes Seufzen hören.
Ich gehe zu ihr und lege einen Arm um ihre Schultern. Sie wirkt so verletzt, dass ich es vorziehe, mit dem reden zu warten und mich stattdessen erstmal um sie zu kümmern. Also führe ich sie sanft zu einem Stuhl im hinteren Teil des Ladens. Dann hole ich aus dem Café gegenüber zwei große Becher mit heißer Schokolade. Mit heißer Schokolade bewaffnet setze ich mich neben sie. Sie nimmt ihre Schokolade, nickt mir dankbar zu und trinkt. Ich lege wieder einen Arm um ihre Schultern und warte, bis sie sich einigermaßen beruhigt hat.

Schließlich frage ich: "Eve, bitte sag mir, was los ist."

Eve seufzt einmal tief, bevor sie sich mir zuwendet und mich ansieht. Dann antwortet sie: "Sie ist meine Mate."

Für einen Moment bin ich baff. Mates? Eve und Ashley? Aber warum zur Hölle gehen sie sich dann so aus dem Weg? Sie scheinen keinen Streit zu haben.

Eve bemerkt meinen überraschten Gesichtsausdruck, deutet ihn aber nicht ganz richtig. "Ja, ich bin lesbisch. Hast du ein Problem damit?" fragt sie, den letzten Teil herausfordernd zischend.

"Natürlich nicht! Schließlich war ich selbst früher mit einer Frau zusammen." beschwichtige ich sie.

Jetzt habe ich den Eindruck, bei Eve fallen gleich die Augen aus ihren Höhlen...

... also füge ich hinzu: "Ja, ich bin bisexuell. Aber zum eigentlichen Punkt: du und Ashley scheint keinen Streit miteinander zu haben. Ich habe den Eindruck, dass ihr beide nette Frauen seid und daher wundert es mich, dass ihr beide euch aus dem Weg geht, anstatt zusammen zu sein."

Eve lässt die Schultern hängen. Sie sieht sehr traurig aus. Nach ein paar Minuten des Schweigens fängt sie schließlich an zu erzählen:
"Als Kinder sind Ashley und ich in dieselbe Schule gegangen, wie alle anderen Rudelmitglieder auch. Viele der reichen Kinder mit hohem Status waren gemein zu mir, aber irgendwann haben ich und ein paar andere Außenseiter eine Gruppe von Freunden gebildet. Ashley war auch eine von uns. Sie war zwar reich, aber auch nett und total schüchtern, damals. An ihrem 18. Geburtstag hat sie herausgefunden, dass wir Mates sind. Ich habe mich wirklich gefreut. Ich wusste schon seit einiger Zeit, dass ich Frauen mag und Ashley hat mir schon immer gut gefallen. Also war ihr Geburtstag zuerst ein Tag, so glücklich, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.

Aber dann haben Ashleys Eltern davon erfahren. Und damit war die Sache gelaufen. Ich bin eine Frau und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, auch noch eine Omega. Ich glaube, insgeheim hatten Ashleys Eltern auf einen Alpha oder Beta für Ashley gehofft. Ich war eine Riesenenttäuschung. Zuerst wollte Ashley von ihren Einwänden nichts hören und wir waren trotzdem zusammen. Aber sie konnte ihre Familie nicht ewig ignorieren. Zumal sie noch bei ihnen gelebt hat. Irgendwann hat ihre Mutter sie für einige Zeit mit ins Kloster genommen. Sie wurde zwar schon immer streng erzogen, aber das war wirklich eine schwere Zeit für sie. Immer wieder wurde ihr gesagt, wie lasterhaft und widernatürlich es wäre, mit einer Frau zusammen zu sein und dass sie als Mitglied ihrer Familie eine Pflicht zu erfüllen hätte. Auf mich wurde in der Zwischenzeit auch eingeredet, hauptsächlich von ihrem Vater. Und irgendwann... irgendwann haben wir aufgegeben. Eingesehen, dass es keinen Sinn hat. Aber das ändert leider nichts an unserer Mate-Verbindung. Ich vermisse sie oft. Und es fällt mir schwer, sie zu sehen."

Ich fühle mich elend. Arme Eve! Und arme Ashley! Was denken sich diese beknackten Leute nur dabei, die eigene Tochter derart zu beeinschränken! Da muss ich etwas gegen tun. Als Luna und als Freundin! Ich weiß zwar noch nicht, wie ich das hinkriegen kann, aber ich weiß, wo ich anfangen werde. Nämlich bei der Frau, die jahrelang mehrere Lunas dieses Rudels bei der Arbeit erlebt hat und mir glücklicherweise auch gut gesonnen ist.

Es wird Zeit, mal wieder mit Julia zu reden.


Hey Leute, ich hoffe, die neuen Kapitel gefallen euch. 🙂
Was haltet ihr von Eve und Ashley? Und was denkt ihr, sollte Merry jetzt tun? Lasst es mich wissen, ich freue mich immer über Kommentare. 🙂

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