Kapitel 61

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Es gibt so Momente im Leben, in denen ich mich frage, warum ich mich jetzt nicht spontan in einen Käfer verwandeln und unterm nächsten Stein verschwinden kann. Wie jetzt, zum Beispiel. Kennt ihr das auch? Ja?

Nun, jedenfalls steht mein Mate vor der Tür und ich habe, zum ersten Mal seit wir uns kennengelernt haben, keine Ahnung, wie ich mit ihm reden könnte. Also, was tun?

Verstecken? Nein, zu kindisch!

Mit ihm reden und ehrlich sein? Nein, geht nicht, dann würde ich sicher anfangen zu weinen und vor Blake zu weinen ist gerade das Letzte, was ich will.

Aus dem Fenster klettern vielleicht? Ach Quatsch, ich bin doch nicht mehr 5!

Lügen? Definitiv Nein, sowas tue ich nicht!

Hmm. Sieht aus, als wäre ehrlich sein immer noch die vernünftigste Option. Dann mal los!
Ashley ist aufgestanden und sieht mich an. Ich nicke ihr zu. Sie geht und ich höre, wie sie die Tür öffnet und kurz darauf Blakes Stimme.
"Fenster!" sage ich, mich spontan umentscheidend und gehe schnell in die ersehnte Richtung. Allerdings werde ich von Eve aufgehalten. Sie sagt: "Merry, bei allem Respekt: wir sind im vierten Stock und du bist schwanger."

Mist, stimmt! Ich überlege es mir anders und setze mich stattdessen wieder aufs Sofa. Dann schnappe ich mir meine leere Tasse und betrachte sie. Einfach um irgendwo anders hinsehen zu können als zu Blake.

"Merry?" höre ich die vertraute Stimme meines Mates. Bei ihrem Klang wird mir ganz warm. Ich begutachte weiter meine Tasse und antworte nicht.

Er seufzt. "Bitte rede mit mir! Ich weiß, dass das, was du gesehen hast, ein Schock für dich war. Ich würde es dir gerne erklären. Ich wollte nie, dass du so etwas zu Sehen kriegst. Seit ich dich gefunden habe, habe ich mich bemüht, dich nur das Beste von mir sehen zu lassen. Weil ich nicht wollte, dass du Alaska wieder verlässt. Aber bitte laufe jetzt nicht vor mir weg! Und um alles in der Welt, bitte hab' keine Angst vor mir!"
Bei seinen letzten Worten sehe ich doch hoch zu ihm. Er steht jetzt nur wenige Schritte von mir entfernt und sieht mich voller Sorge an. Er sieht mir tief in die Augen und sagt: "Ich würde lieber sterben, als dir weh zu tun!"

Jetzt habe ich Tränen in den Augen. Und es ist mir noch nicht mal unangenehm. Ich strecke meine Hand nach ihm aus. Er nimmt sie sanft in seine und setzt sich neben mich. Für eine Weile sehe ich ihn einfach nur an.

Schließlich sage ich: "Du musst mir das nicht erklären. Das haben Ashley und Eve schon getan. Es ist nur, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Bisher warst du immer der Gutmütige, zu dem ich gehen kann wenn irgendwas ist. Dass du eventuell nicht immer und zu jedem so nett sein würdest, ist mir irgendwie nicht ganz klar gewesen. Auch wenn es im Nachhinein logisch erscheint."

Blake streicht leicht mit dem Daumen über meinen Handrücken. Er sieht mich gleichzeitig liebevoll und etwas wehmütig an und sagt: "Ich verspreche dir, was du heute gesehen hast, ist eine seltene Ausnahme. In meiner und der Amtszeit meines Vaters ist so etwas insgesamt nur zweimal vorgekommen. Ich glaube nicht, dass es zu meinen Lebzeiten nochmal vorkommt. Ich weiß, dass ich sehr drastische Maßnahmen ergriffen habe, aber ich gebe auch zu, dass ich meine Entscheidung nicht bereue. Ich hoffe sehr, du kannst das akzeptieren. Du weißt, dass ich dir nie wehtun würde. Und du weißt, dass ich dich liebe."

Ich seufze und drücke kurz seine Hand. Schließlich sehe ich ihn an und sage: "Ich verstehe warum du das getan hast. Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit um es zu verarbeiten. Ich schlage vor, dass wir jetzt erstmal zum Arzt gehen. Unser Baby hat hier nämlich immernoch oberste Priorität. Und heute Abend reden wir nochmal. Okay?"
"Okay." antwortet er.

Zum Glück ist dem Baby nichts passiert. Die Ärztin versichert uns, dass es ihm blendend geht und wir uns keine allzu großen Sorgen machen sollten. Schließlich sei das Baby das Kind eines Alphas. So leicht würde sich ein Alphaskind nicht unterkriegen lassen.

Langsam wird es immer später und ich bin mittlerweile echt müde. Blake hat mir angeboten im Gästezimmer zu schlafen, sollte ich erstmal etwas Abstand brauchen. Sein Angebot hat in mir sowohl Erleichterung als auch Wehmut ausgelöst. Ich liebe ihn für sein Verständnis. Es ist eine seiner besten Eigenschaften.

Irgendwann gebe ich mir einen Ruck. Ich bin schließlich Mercedes Taylor, ich werde mich ganz bestimmt nicht einfach verkriechen, nur wegen so etwas!
Ich gehe also nach oben. Aber anstatt in unser gemeinsames Schlafzimmer zu gehen, gehe ich ins Gästezimmer. Dort finde ich meinen Mate, der gerade sein Hemd aufknöpft. Als ich reinkomme, sieht er auf und hält inne.

Ich bleibe im Türrahmen stehen und verschrenke zögerlich die Finger. Für ein paar Sekunden sind wir beide still. Das Schweigen wird langsam unangenehm.
Schließlich sage ich: "Ich habe viel darüber nachgedacht. Über die Sache mit Frank Chambers, meine ich. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich an deiner Stelle vermutlich dasselbe getan hätte. Besonders nachdem ich mir Chambers' Vorstrafenregister angesehen habe."

Blake hebt kurz die Augenbrauen. Dann lächelt er erleichtert. "Du hast ihn also nochmal überprüft, hmm? Das hätte ich mir denken können. Meine Mate ist eben nicht nur süß, sondern auch klug!" sagt er lächelnd und breitet die Arme aus. Ich gehe ohne zu Zögern zu ihm und erwidere seine Umarmung. Es fühlt sich gut an, wieder mit Blake im Klaren zu sein.

"Jetzt ist da nur noch eins" sage ich und sehe ihm in die Augen. "Und das wäre?" fragt er.
"Dieses Bett hier ist nicht groß genug für uns beide. Daher sage ich, du sollst jetzt mitkommen und wieder in unser gemeinsames Zimmer zurück. Du warst sowieso schon viel zu lange hier drin." erkläre ich.

"Meine Liebste, ich war gerade mal ein paar Minuten hier drin." meint Blake schmunzelnd.

"Eben!"

Die LunaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt