Chapter 147

1.5K 53 16
                                    

"Schatz, aufstehen" versuche ich, Wincent endlich aus dem Bett zu bekommen.
"I will schlafen" nuschelt er ins Kissen.
"Ey, da komm ich ausnahmsweise mal ohne Probleme aus dem Bett und dann kommst du nicht raus."
"War dir heute nicht schlecht?" fragt einfühlsam.
"Nein."
Vielleicht ganz leicht, aber das habe ich schnell weggeatmet bekommen.
"Komm jetzt. Du hast gleich Sport und ich muss zum Aufbau."
"Heute ist auch das mit den Fans?"
"Ja."
"Bist du dabei?"
"Ja. Leander und Robin holen sie von der Schlange. Jetzt steh aber endlich auf."
Ich ziehe an seinen Handgelenken und natürlich bringt das rein gar nichts. Wincent ist immerhin viel stärker. Mit einem Ruck hat er mich dann auf sich gezogen und blitzschnell die Arme um mich geschlossen.
"Schatz, aufstehen" lache ich.
"Nö."
"Wincent, das ist mein Ernst!"
"Schaaaatz" stöhnt er.
"Ne, nix da. Du hast jetzt Sport."
"Sport krieg ich auch anders."
"Du bist schlimm" lache ich "Komm jetzt. Das mein ich ernst."
Ich drücke ihm noch einen kurzen Kuss auf die Lippen, bevor ich mich aus seinen Armen befreie. Mit meinem Handy lehne ich mich an den Türrahmen. Während Wincent sich langsam aus dem Bett quält, checke ich kurz meine Nachrichten.
"Willst du echt aufpassen, wie ein 28 jähriger sich anzieht?"
"Ich pass auf, dass du dich fertig machst und nicht wieder einpennst."
"Ha Ha Ha."
"Das ist mein Ernst."
"Biest" murmelt er.
"Ich weiss. Hast du schon oft genug gesagt" grinse ich ihn an.
Wincent steht auf und zieht sich seine Jogginghose und seinen Hoodie über.
"Guten Morgen" lächle ich und stelle mich leicht auf Zehenspitzen.
"Jetzt kommst du mir so" murrt er und legt seine Hände an meine Hüften.
"Ich weiss nicht, was du meinst" lächle ich ihn gespielt unschuldig an.
"Ja, springst auf mich rauf, um mich zu wecken und jetzt willst du nen Kuss."
"Ich kann auch zum Aufbau verschwinden" schmunzle ich und drehe mich zur Tür.
"Vergiss es" lacht er und zieht mich zurück "Ich will einen Kuss zur Entschuldigung!"
"Fast wären Paul und Manni gekommen. Sei lieber froh, dass ich gekommen bin. Jetzt aber langsam echt rüber. Ins Hotel hatten wir ja schon eingecheckt."
"Okay."
Ich lege meine Lippen kurz auf seine, bevor ich Wincent nach unten ziehe.

Heute ist alles, aus welchem Grund auch immer, ziemlich entspannt. Somit ziehe ich mich während des Mittagessen etwas zurück, um endlich den Brief von Reiner zu lesen.
Im Büro setze ich mich im Schneidersitz auf die kleine Couch und hole den Umschlag aus meiner Jackentasche. Noch einmal atme ich durch und öffne dann den Umschlag. Neben einem zusammengefaltetem Zettel ist ein Bild drinnen. Ein Bild von mir als Baby auf dem Arm meines Vaters. Er sieht mich lächelnd an. Bei diesem Bild würde man denken, wir hätten ein komplett normales Vater-Tochter-Verhältnis. Er wirkt wie ein Papa, der alles tut, um seine kleine Tochter, die er auf dem Arm hält, zu beschützen. Und doch hat er es nie getan. Nochmal muss ich tief durchatmen, bevor ich den Brief hervornehme.
»Ich will nicht, dass du mir verzeihst. Das kannst du gar nicht. Ich verlange nichts von dir. Aber sei einfach glücklich. Sei glücklich. Mit deinem Ehemann. Mit deinem Bruder. Deiner Familie. Ich habe viele Fehler gemacht. Nie im Leben hätte ich eine Spende von dir verlangt. Dafür habe ich dir zu viel genommen. Trotzdem hast du gesagt, dass du es tun würdest. Du hättest gespendet, weil dein Herz unglaublich gross ist. Auch wenn du mich hasst, was ich total verstehe, hättest du mich nicht einfach sterben lassen. Auch wenn diese Option nicht mehr unausweichlich ist. Ich werde sterben. Zeitnah. Keine Sorge, du wirst nichts erben. Diesen Wunsch habe ich dir und Max erfüllen können.
Du bist die stärkste Frau, die ich kenne. Ich habe das Glück, dich noch einmal gesehen zu haben. Dieses kleine Mädchen, was damals in meinen Armen lag, nachdem es fast zwei Monate zu früh und so klein und schwach zur Welt gekommen ist, ist nun eine starke, unabhängige und glückliche junge Frau. Du hast einen Mann an deiner Seite, der dich liebt und der dich nie im Stich lassen wird. Es tut mir wahnsinnig leid, wie ich damals über ihn gesprochen habe. Alles, was ich ihm vorgeworfen habe, war falsch. Er liebt dich. Ich weiss, das muss ich dir nicht sagen. Wahrscheinlich interessiert es dich auch nicht, dass ich es sage. Du weisst es.
Nun mache ich bald keinen Schritt mehr auf dieser Erde. Ob man mir verzeihen kann was ich so vielen Menschen angetan habe, weiss ich nicht. Meine letzten Tage werde ich noch mit dieser Ungewissheit leben. Vieles ist auch unverzeihlich. Darüber bin ich mir im Klaren.
Jetzt ist mir aber nur eines wichtig.
Geniesse es. Geniesse einfach alles.
Geniesse jeden Schrei deiner zukünftigen Kinder. Geniesse jedes Lachen. Jeder Augenblick soll etwas besonderes sein. Mach ihn zu etwas besonderem. Lass nicht zu, dass irgendetwas solche kleinen Momente unwichtig erscheinen lässt.
Der Job 'Eltern' ist der grösste, wichtigste und tollste Beruf, den es gibt. Er ist anstrengend ohne Ende und du kannst gar nicht alles richtig machen. Trotzdem wirst du eine fabelhafte Mama.
Geniesse jeden Moment mit deiner Familie.
Ich bin froh, dass du nun diesen Schritt gegangen bist. Du brauchtest diese Entscheidung. Du musstest sie treffen. Damit du nun endlich komplett abschliessen kannst. Dieses Kapitel in deinem Leben ist schon lange vorbei, aber nie ganz geschlossen gewesen. Nun kannst du es endlich komplett schliessen. Es ist vorbei. Für immer.
Du hast Wunden. Sie werden nie verschwinden. Aber sie haben dich stark gemacht.
Lebe dein Leben.
Leb wohl
In Liebe
Reiner«
Seufzend lasse ich mich auf dem Sofa fallen. Der Brief liegt auf meiner Brust. Das Bild halte ich nach oben.
"Leb wohl" flüstere ich.
Erstaunlicherweise geht es mir wirklich gut.
Ich bin nicht ansatzweise neben der Spur oder so.
Den Brief und das Bild stecke ich wieder in den Umschlag, welcher den Weg in meine Jackentasche findet.

Nach dem Umbau stehen wir kurz vor Wincents Auftritt an der Seitenbühne. Wincent hat schon seine Gitarre um und steht gerade mit seinem Handy an einer der Boxen gelehnt. Lächelnd gehe ich auf ihn zu.
"In fünf Minuten musst du draussen sein" schmunzle ich und deute auf sein Handy.
"Einen Moment" hebt er den Finger, ohne seinen Blick vom Display zu lösen.
"Schatz, noch vier Minuten und du nimmst dein Handy ja wohl nicht mit auf die Bühne."
"Bin ja schon fertig" grinst er und macht zwei Schritte auf mich zu.
Seine Hände legt er an meine Taille, nachdem er sein Handy in meine Jackentasche gesteckt hat.
"Geniess das letzte Konzert der Tour" lächle ich.
"Werd ich. Kannst du mir was versprechen?"
"Was denn?" lache ich.
"Reich nicht die Scheidung ein."
Bevor ich etwas erwidern kann, liegen seine Lippen auf meinen.
"Ich liebe dich" flüstert er noch, bevor er zur Bühne geht.
Was war das? Scheidung? Sonst ist noch alles gut bei ihm?
Amelie und ich stellen uns an die Seitenbühne, während Wincent auf der Bühne eine unfassbare Show abliefert.
Die ganze Zeit überlege ich, was er grade damit gemeint haben könnte. Verstehe aber einfach nur Bahnhof. Bis zu diesem einen Augenblick.

Hier neben dir Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt