Kapitel 32 - Ezali

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Am nächsten Tag regnete es nicht mehr. Die Wolkendecke hatte den Pfeiler freigegeben, hing viel höher, eine hellgraue, nur noch träge dahintreibende Schicht. Im Verlauf des Tages wurde sie heller, blau begann hindurch zu schimmern, wurde zu Lücken, deren Ränder sich faserig immer weiter auflösten, bis Sonne und Schatten fleckenweise über die Stadt zogen. Die nassen Hauswände trockneten, die Bäche in den Strassen versiegten. Nach und nach kamen die Leute aus ihren Häusern, besahen sich den Schaden, den der Sturm angerichtet hatte, abgebröckelten Verputz, verwaschene Schriftzüge an den Fassaden.

Als das Licht des Sonnenuntergangs den Pfeiler zum ersten Mal seit Tagen wieder orange färbte, hingen nur noch vereinzelte Wolkenfetzen am Himmel, und bis Falrey spätnachts vom Liliths nach Hause ging, waren auch die verschwunden, die Nacht sternenklar.

Zum einen hatte die Gewissheit, dass es nun so bleiben würde, ein volles Jahr ohne jede Veränderung, ohne den Regen, die Ruhe, die er mit sich gebracht hatte, etwas Erdrückendes. Zum anderen war Falrey sogar ein bisschen erleichtert, den Himmel wieder zu sehen, denn mit Wolkendecke war Niramun wie ein Topf, dem man einen Deckel aufgesetzt hatte, völlig abgeschlossen, ohne Ausweg.

Auch so wurde ihm deutlicher denn je bewusst, dass die Wände blieben. Der Himmel mochte endlos sein über dieser Stadt, aber man sah nie wirklich weit, nicht weiter als bis zur gegenüberliegenden Felswand, zur Spitze des Pfeilers, auf dem die Burg genauso stoisch thronte wie eh und je, als hätten all die Blitze nicht einmal daran gekratzt. Der Horizont in Niramun war rund und steinern und egal, wo man stand, man blickte immer zu ihm auf. Etwas an diesem Gedanken behagte Falrey nicht, also versuchte er ihn auszublenden.

Jaz hatte Falrey gewarnt, dass die Nächte nach dem Regen über mehr los sein würde als sonst, die Leute waghalsiger, und er behielt recht, Falrey hatte mehr zu tun. Es war nicht nur die übliche Klientel aus mehr oder weniger regelmässig auftauchender Stammkundschaft, grosskotziger Händler, die die Woche über bessere Geschäfte gemacht hatten als üblich, und unsicherer Jungen mit zu viel Geld in den Taschen, sondern mit fortschreitender Nacht spülten mehr und mehr Typen, die man normalerweise nur in den Saufhäusern antraf, in den Empfangsraum, allein oder in Gruppen, die meisten zumindest gut angetrunken.

Bei diesen reichten in Erscheinung treten und warnende Blicke nicht immer, mehrmals erhob Falrey die Stimme, schob sich zwischen Mädchen und Freier, um letztere darauf hinzuweisen, dass jede Leistung ihren Preis hatte, und wer ihn nicht zu zahlen bereit war, hier nichts verloren hatte. Mehr als einem verdrehte er vorsorglich den Arm und legte ihm nahe zu verschwinden.

Er brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, der Wechsel geschah fast von selbst. Sobald er sich bewegte, wurde er von einem unscheinbaren Stück Dekor zu jemandem, der wahrgenommen wurde, jemandem, vor dessen Stimme und Worte sie den Kopf einzogen, weil seine Haltung ihnen sagte, dass er es nicht tun würde, und dass sie es nicht darauf ankommen lassen sollten. Es erfüllte Falrey mit einer seltsamen Genugtuung, umso mehr, weil er wusste, dass es nicht mehr nur die falsche Maske war, die er sich irgendwann übergestreift hatte, um sich dahinter zu verstecken. Mittlerweile hätte er vermutlich tatsächlich jeden von ihnen problemlos verprügeln können.

Er stellte auch fest, dass er die Arbeit nicht ungern machte. Natürlich war es die meiste Zeit über langweilig, aber immerhin befand er sich dabei in der Gegenwart von Leuten, die er mochte. Und bei kaum etwas anderem wären ihm seine Fähigkeiten als Beobachter und die Tatsache, dass er verschwinden und aus dem Nichts auftauchen konnte, so nützlich gewesen. Zumindest solange es nicht darauf hinauslaufen sollte, dass am Ende irgendjemand tot war. Ausser vielleicht als Dieb.

Er fragte sich, ob er wirklich genug von Poss gelernt hatte, als dass er irgendwo einbrechen hätte können, ohne in die erstbeste Falle oder Wache zu laufen. Da war eine Menge Wissen in seinem Kopf, aber es fehlte ihm an Übung. Ein Teil von ihm bedauerte, dass Jaz Poss so schnell umgebracht hatte, auch wenn es so fairer gewesen war. Auch ohne Finger hätte er ihnen vermutlich noch eine Menge beibringen können. Vielleicht hätte er sogar etwas über Umairat gewusst, immerhin war er bereits viel länger in den Schatten unterwegs gewesen als Jaz, wenn auch nicht so tief.

Niramun III - Mit Faust und KlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt