Kapitel 3

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Dieser Anblick eröffnet sich mir auch nach den nächsten zwei Stunden. Nach einem Platz in der Mensa suchend, bleibt mein Blick an Anika und ihrer Freundin hängen, die allein an einem Tisch sitzen und sich gegenseitig füttern. Ihre Freundin mit den kurzen blonden Locken, die scheinbar eine Vorliebe für Schwarz und Spaghetti hat, schiebt ihr gerade in regelmäßigen Abständen eine vollbeladene Gabel in den Mund und holt sich danach einen Kuss ab. Wenn Anika nicht gerade auf so schöne Weise beschäftigt wäre, hätte ich mich jetzt zu ihnen gesetzt, aber wir haben sicher noch genug Gelegenheiten, um uns zu begrüßen.

Mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen drehe ich mich einmal um meine eigene Achse und begutachte das erste Mal in diesem Jahr meinen Lieblingsraum. Naja, Raum kann man das eher nicht nennen. Die hohe Decke wird von den großen Fenstern in warmen Tönen beleuchtet und massive Heizungen ranken an den Wänden hoch. Am auffälligsten sind aber die knallblauen Plastiktabletts, die sich im ganzen Raum verteilt haben. Besonders freue ich mich aber über die Essensbedienung, mit denen ich wie gewohnt Höflichkeiten austausche, während sie mir meinen vollen Teller reichen. Es ist ein Wunder, wie ich es schaffe mich fortzubewegen, ohne die beinahe überlaufende Soße zu verschütten. Beladen mit Besteck und Essen suche ich nach einer mir bekannten Person – direkt an erstem Tag allein zu essen wäre doch ziemlich traurig. Gut, ich erkenne einige aus meinem Jahrgang wieder, aber mehr als ein paar Sätze habe ich mit kaum einem gewechselt…

Tatsächlich entdecke ich jemanden, der solch ein schlechtes Los gegriffen hat: Das Mädchen mit den grün-blauen Haaren sitzt allein an einem Tisch in der Ecke und ich entscheide mich augenblicklich ihr Leid zu beenden. Wie froh wäre ich gewesen, wenn das jemand mal außer meinem besten Freund für mich getan hätte!
Beim Näherkommen sehe ich, dass sie wie vorhin in ihr Skizzenbuch vertieft ist; ihr Tablett steht nur unbeachtet vor ihr und scheint nicht angerührt worden zu sein. Um sie nicht zu erschrecken, schiebe ich lautstark den Stuhl neben ihr zurück und setze mich, während mein Rucksack seinen Platz auf dem Boden findet. Als hätte ich sie damit aus ihrer eigenen Welt gerissen, zuckt sie kurz zurück und mustert mich eingehend. »Hallöchen! Ich wollte dich eben nicht erschrecken«, entschuldige ich mich und zwinkere ihr zu. »Ich konnte mich vorhin gar nicht vorstellen. Ich bin Paul. Ist es okay, wenn ich neben dir sitze?« Der Ausdruck in ihren großen blaugrauen Augen wird sofort weicher und sie ringt sich ein dünnes Lächeln ab.

Ein leises »Hallo« verlässt ihren Mund und sie schiebt ein schnelles »Ich heiße Assia« hinterher. Wurde ich damit als neuer Banknachbar akzeptiert?
Doch so einfach scheint Assia es mir nicht machen zu wollen. Ihr Gesicht wendet sich wieder von mir ab, während sich ihre Augen auf das Buch vor ihr heften. Zum ersten Mal erkenne ich, was sie da zu Papier bringt: Es sind kleine, teilweise kolorierte Bilder, in denen sich die verschiedensten Figuren tummeln. Auf einer Zeichnung strahlt mich ein kleines Mädchen an, das ihren ausgefransten Teddybären fest umklammert; auf einem Größeren fallen sich zwei junge Männer in Armeeuniformen in die Arme; daneben schaut mir eine Gruppe von acht jungen Koreanern direkt in die Augen.

Kaum dass Assia meine Musterungen bemerkt, schiebt sie ihren Unterarm schützend über die Seiten. »Tut mir leid, ich hätte vorher fragen sollen… Du musst sie nicht vor mir verstecken, weißt du? Ich wäre auch gern so begabt darin wie du!«, versuche ich ein Gespräch anzufangen, »Aber meine Leidenschaft wird wohl immer das Fußballspielen sein. Magst du Fußball?« – »Ich bin nicht begabt, ich habe mir das beigebracht. Und nein.« Bestürzt senke ich meinen Blick. Oh Gott, habe ich es echt schon bei unserem ersten Gespräch versaut? Vergeblich probiere ich den Ausdruck in ihrem Gesicht zu deuten. »Tut mir wieder leid, du hast natürlich recht! Und kein Ding, meine Mum wird meine Faszination dafür wohl auch nie nachvollziehen können«, versuche ich es scherzhaft. »Ich bin der Captain meines Teams! Machst du gerne Sport?« – »Nein.«

Ich lasse die Schultern nach vorn fallen. Es war doch nie meine Absicht sie zu nerven... Meinen restlichen Mut zusammennehmend versuche ich es ein letztes Mal: »Möchtest du allein weiter essen?« Ein drittes Mal wirft sie mir ein »Nein« zu, aber diesmal kommt es zögernd. Stille legt sich über uns, während ich ihre Antwort sacken lasse. Soll ich noch weiter auf sie eingehen oder soll das heißen, dass ich meine Klappe halten soll? Ich entscheide mich immer noch uneins für letzteres und nehme die bedrückende Stille in Kauf. Innerlich hadere ich noch weiter mit mir, aber Assia löst die Situation schließlich: »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht abschrecken. Das hat auch nichts mit dir direkt zu tun, ich kann nur echt nichts mit Sport anfangen. Oder guten Smalltalk führen.« Ein schiefes Lächeln umspielt ihre Lippen und es passt ganz wunderbar in ihr pausbackiges Gesicht.

»Was zeichnest du denn da so? Oder besser, wen zeichnest du?«, frage ich erleichtert über ihre Ehrlichkeit. Assias Augen beginnen zu strahlen, als sie über ihre eigenen Worte stolpert: »Das sind Grantaire und Enjolras. Im Les Miserables Film haben Aaron Tveit und George Blagden die beiden gespielt. Ich liebe die beiden: Um sich auf ihre Rollen vorzubereiten, haben sie Teile des Buches gelesen. Aaron hat Enjolras‘ Charm und Leidenschaft aufgegriffen und George Grantaires Verehrung und Bewunderung für ihn. Deshalb hat er, ohne irgendwem etwas zu sagen, Grantaire den ganzen Film über so hoffnungslos verliebt gespielt. Das ist ja mal so was von real! Denn wenn Victor schon Aussagen wie ‚Grantaire bewunderte, liebte und verehrte Enjolras‘ reinpackt, dann sagt, dass Grantaires Existenz an Enjolras gebunden ist, Grantaire an nichts glaubt außer an ihn und die beiden dann händehaltend sterben, dann ist das ja mal sowas von gerechtfertigt!« Als realisiere sie nach diesem Ausbruch erst, was sie da gerade getan hat, verstummt sie augenblicklich.

»Entschuldigung«, glaube ich sie sagen zu hören. Selbst noch etwas überfordert, aber interessiert spreche ich ihr schnell zu: »Nein, nein! Haben nicht richtig viele Produktionen nach Grantaires Solo in ‚Drink with me‘ irgendeinen Enjoltaire Moment?« Und zum zweiten Mal blitzen Assias Augen auf. »Woher weißt du das?«, möchte sie zögerlich von mir wissen. »Meine Mum liebt solche Musicals und seit ich klein war, haben wir die abends zusammen geschaut«, erkläre ich und reibe mir mit der Hand über den Nacken. »So viel weiß ich aber auch nicht darüber…« Schnell unterbricht sie mich. »Doch, du hast recht! In der Tecklenburg-Version wurden die beiden von einer Kanonenkugel von der Barrikade gestoßen und Enjolras dreht sich dann zu Grantaire rüber, der aber schon tot ist, hält sein Gesicht und ruft gequält seinen Namen, nur um sich dann von der Barrikade zu stürzen und erschossen zu werden!« – »Wir scheinen mehr gemeinsam zu haben, als wir dachten«, stelle ich lachend fest und ein glucksendes Geräusch verlässt Assias Lippen.

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