Kapitel 47

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„Nein Mum, bitte nicht. Nur noch fünf Minuten!" Ich klammere mich in den letzten Zipfel meiner Decke, aber es hilft nichts. Mit einem letzten Ruck flutet mich die Kälte meines Zimmers und ich gebe mich geschlagen. Wie Frau Holle steht Mum vor meinem Bett, die Decke in der einen, das Kissen in der anderen Hand und wartet darauf, dass wir zusammen frühstücken.

Stöhnend wanke ich aus meinem Lager, woraufhin mich sofort ein dumpfes Pochen begrüßt. Ich bekomme oft Kopfschmerzen, wenn ich zu lange schlafe, aber heute wäre ich am liebsten den ganzen Tag dortgeblieben. Einen besseren Start in den Tag kann es nicht geben.

Mum hat uns in der Küche schon Haferbrei mit ungefähr einem Kilo Kakaopulver darin vorbereitet. Mein erster Gang bringt mich jedoch ins Badezimmer, wo ich mich grob fertig mache. Wie diese gute Fee es schafft, schon so früh so gut gelaunt zu sein und weder verknautscht, noch wuschelig auszusehen, ist mir ein Rätsel. Mir geht es jedenfalls nicht so. Wenn ich morgens aufstehe, dann sehe ich auch so aus. Da hilft auch die riesige Portion Haferbrei, die meinen Magen ein wenig später wärmt, nichts.

„Reichst du mir bitte die Banane, Schatz?" Mit einem Brummen, das genervter klingt, als ich es vorhatte, gebe ich ihr das Topping. Nicht mal am Wochenende scheint meine Stimmung besser zu sein. Dabei hatte ich mich so auf die beiden Tage gefreut. Toll, jetzt bin ich sicher noch mauliger. „Was hast du heute vor?", fragt sie mich während sie es schafft, sich trotz Essen nicht den roten Lippenstift zu verschmieren. „Ich bin am Anfang der Klausurphase! Nichts als Lernen werde ich heute schaffen, also plan mich nicht irgendwo mit ein." Gekrängt von der bissigen Antwort rückt Mum ihre Perlen zurecht. Die geflochtenen Hochsteckfrisuren, Ketten und Absatzschuhe erinnern an eine längst vergangene Zeit, aber irgendwie liebe ich ihren Style. Als Kind habe ich meine Mum in jeder Menge wiedergefunden. Ich bereue meine gemeine Antwort sofort, aber der Schaden ist schon angerichtet. Verflucht seist du, blöder Kopf.

„Mit wem redest du hier? Mit dem Grund deiner schlechten Laune oder deiner armen Mutter?" Schuldbewusst gehe ich zu ihr und beantworte ihre Frage mit einem Kuss auf ihre Stirn. Das Lächeln ist daraufhin wieder an dem Platz, wo es hingehört, auf ihren roten Lippen. Zusammen lauschen wir der Musik beim Essen und ich setze mich vor einem Haufen Lernblätter. Die einzigen Sätze, die man zwischen gemurmelten Antworten von mir hört, spiegeln meine Verzweiflung. „Man, aber ich wusste das doch eben noch!" „So werde ich nie fertig!" „Wer soll das denn verstehen?! Bin ich Einstein oder was?!" „So viel kommt doch niemals ran!" „Wer braucht das überhaupt?" Begleitet wird dieser Text der Frustration mit dem Rascheln von Papier und Seufzern.

Als ich das selbst kaum noch ertragen kann, steckt Mum den Kopf durch die Tür. „Das kann man ja nicht mehr mit anhören. Wann hast du denn die nächste Prüfung?" Mit den Händen reibe ich mir durchs Gesicht und atme einmal tief durch. „In drei Tagen. Es ist auch eigentlich nicht so schwer, aber je mehr ich es mir anschaue, desto weniger Sinn ergibt alles." Wie ein bockiges Kind, schiebe ich den Stapel weg und verschränke die Arme vor der Brust. Mit schräggelegtem Kopf beobachtet meine Mum diesen Akt der Verzweiflung und wartet, bis ich fertig bin mit dem, was auch immer ich hier mache. „Hör dir kurz meine Idee an, okay? Du hörst hiermit jetzt auf. Wenn es eigentlich so einfach ist, dann verwirre dich nicht mehr als nötig. Und heute Abend gehen wir das zusammen noch durch und weil ich wahrscheinlich absolut keinen Plan davon habe, musst du mir alles erklären. Wenn ich das dann verstehe, dann kann die Klausur nur gut werden. Ich muss gleich runter und den Laden aufschließen. Ein paar Lieferungen setzen im Lager noch Staub an. Sortiere sie doch, dann kannst du vielleicht mal deine unerträgliche Laune herauslassen."

Von ihrem Einfall wenig überzeugt, raffe ich mich auf und folge ihr. Heute Abend wird mir das auch nicht leichter fallen, aber irgendwo hat sie recht. Gerade mache ich es nur schlimmer. Dass mich Mum nicht in die Nähe von Kunden lässt, kann ich gut nachvollziehen, wobei mir das trotzdem einen Stich versetzt. So kann das nicht weiter gehen, ich muss mich irgendwie aufheitern. Woher all die infizierten Gefühle kommen, weiß ich wenigstens. Ich wäre um diese Zeit beim Training und würde mich auspowern. Mit meinen Freunden. Dazu kommt, dass Julius mir scheinbar den Krieg erklärt hat, was mich noch in den Wahnsinn treibt. Momentan kann ich das nur vor mich hin schieben, zwischen Tür und Angel darüber zu philosophieren ist genauso wenig wirkungsvoll, wie das Jonglieren mit Wasser.

Im Keller, der uns als Lager dient, zeigt mir meine Mutter knapp, welcher Lieferschein zu welchem Karton gehört und was davon gleich nach oben soll. Allein in einem Raum voller Regale und Kisten, ringe ich um Konzentration. Wenn ich mir jetzt einen Plan mache, dann muss ich den Rest nur noch stupide Einsortieren und kann alles in einem Rutsch machen. Das mir die Vorstellung nicht gefällt, allein mit mir und Stille zu sein, erklärt sich von selbst. Ein letztes Mal flitze ich hoch und statte mich mit einer Box und meinem Handy aus. Erst als mir irgendeine Playlist in den Ohren hängt und ich halb durch den Raum springe, bin ich zufrieden. Vielleicht wird der Rest des Tages doch nicht so schlecht. Gewisse Lieder, die ich schonmal mit Julius in Verbindung gebracht habe, lasse ich gar nicht erst anfangen.

Da keine Uhr an den kahlen Wänden hängt, stürze ich mich in einen Rhythmus aus Abhaken, Verpackung aufschlitzen und Sortieren. Ab und zu, wenn der Beat des Liedes passt, werfe ich eine Suppenbüchse auch mal mit Schwung in die Luft und betrachte sie beim Pirouettendrehen. Der Karton mit Mehlsäcken lässt mich zu einem Boxer werden und eine Lieferung Kürbisse erinnert mich an die baldigen Festtage. Erst als meine Rippen schmerzen und mein Schädel sich wieder ankündigt, beende ich das Auspacken und bringe die ersten Ladungen in den Laden. Gerade als ich wieder die Treppenstufen runterschleiche, höre ich meinen Klingelton.

Schnell entkopple ich die Geräte und halte mir das Handy ans Ohr. „Hi, Linus. Training vorbei?" Sein Lachen ertönt, was mich gleich mitgrinsen lässt. „Hey du Vogel! Es ist halb vier! Hast du uns schon so vergessen, dass du nicht mal die Trainingszeiten kennst?" Oops. „Sorry, ich habe gar nicht auf die Zeit geachtet. Wie war denn das Training?" Ich brenne darauf mehr von seinem Tag zu erfahren; es ist schön mal was von den anderen zu hören, auch wenn ich gerade mal das zweite Training aussetze. „Ganz okay, Leeroy hat sich heute voll hingepackt, deshalb mussten wir kurz aufhören, aber ansonsten war alles wie immer." „Oh man ey, kaum bin ich da, bringt ihr euch um." Kichernd schalte ich den Lautsprecher an und setze mich auf den Boden. „Nein, Daddy, bleib du mal in deinem Krankenlager! Wir brauchen dich voll einsatzbereit. Aber glaub bloß nicht, dass wir dich vermissen! Aber ich muss ja mal nachfragen, ob du noch lebst, denn es wäre viel zu anstrengend, sich einen neuen Freund zu suchen. Deshalb rufe ich auch an. Die erste geschaffte Klausur würden die Jungs und ich gern morgen bei mir feiern. Aber nichts Großes oder so, nur ein paar Bierchen und Playstation oder so. Kann ich auf dich zählen?"

Ich möchte in mein Bett zurück. Ich möchte meine Freunde sehen. Ich möchte mich verkriechen und meine nervigen Hormone, die meine doofe Laune verursachen, überstehen. Ich möchte mich ablenken. Aber was spricht schon gegen ein bisschen Kontakte? Außerdem muss ich ja nicht lange bleiben, falls ich merke, dass das überhaupt kein Bock macht. „Ja, geht klar. Wann geht es denn los?" Meine Frage geht in den „Wohooo" auf der anderen Leitung beinahe unter, aber er murmelt noch „Siebzehn dreißig, wir sind doch brave Schüler und wollen Montag ausgeschlafen sein." Jetzt muss auch ich lachen. Wir gehen noch die letzten Einzelheiten durch und ich lasse mir von meinem besten Freund die banalsten Dinge erzählen. Hauptsache ich höre einen netten Menschen. Und schon wieder buddle ich mich beim Zuhören in Selbstmitleid ein.

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