Kapitel 55

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„Bitte geben Sie auch alle unbeschriebenen Blätter mit ab, damit ich diese wiederverwenden kann. Seiten sind durchzunummerieren und dass der Name auf jedes Blatt gehört, muss ich Ihnen sicher nicht mehr sagen."

Er spricht eine andere Sprache als ich. Wir haben schon immer mit entgegengesetzten Tönen kommuniziert, ohne dass es auffiel. Aber egal wie verschieden unsere Sprache auch sein mag, er über Mimik, ich über plumpe Worte, selbst zu mir sollte es jetzt durchgedrungen sein. „Geh weg." „Lass mich in Frieden." „Du bist hier nicht erwünscht." „Versuch dein Glück bei jemand anderes." „Schnall es endlich, Kleiner, ich brauche dich nicht." Das alles haben seine Augen innerhalb weniger Sekunden erzählt, eine Botschaft, die allein mir gilt. Und sie ist angekommen. Wieso auch nicht? Ich habe schließlich immer darum gebeten, dass er mich beachtet, mich nicht mehr ignoriert. Das hat er doch gemacht. Nur nicht so, wie ich es gemeint hatte, aber so ist die Welt nun mal.

Sicher liegt es an mir. Normalerweise gehen ja immer alle davon aus, dass es an allen liegt, nur nicht an einem selbst. Und so möchte ich nicht sein, also bin ich anders. Warum sonst geht es seit Wochen den Bach runter? Ging ziemlich schnell, aber wenn man ein Glas fallen lässt, zerschellt es ja auch nicht erst nach einem Monat. Wir waren Mal nur Freunde. Und dann mehr, irgendwie. Hätte ich früher gewusst, was er für einen Schaden anrichtet, hätte ich mir wahrscheinlich gegen das Schienbein getreten und mich davon abgehalten. Hätte ich das? Vielleicht bin ich Julius ja auf die Pelle gerückt. Oder habe ihn bedrängt und so abgeschreckt. Aber es gab viel zu viele Situationen, die von ihm ausgingen. Ich habe mich nie wie Adonis im Kleid der Natur gezeigt oder ihn angestarrt, als wäre er der letzte noch lebende Dodo. Wobei ich natürlich auch meinen Teil dazu beigetragen habe. Ist es überhaupt sinnvoll nach der Schuldfrage zu suchen?

Vor mir liegt ein weißes Blatt. Jedenfalls sagt man das so. Dieser Stapel hier hat Linien. Damit er sich nicht so allein fühlt, liegen drum herum Stifte. Dieser Stapel soll mit Biologie gefüllt werden, dabei ist es dem Blatt sicher egal, welche Worte darauf gekritzelt werden. Die Aufgaben klangen ganz interessant und mein Konzeptpapier zappelt schon voller Inhalt herum, aber dann habe ich jeden Kampfgeist für diese Klausur verloren. Ich habe doch schon genug gute Noten in Bio. Und so beschissen, wie die letzte Zeit war, wäre es vom Schicksal doch ziemlich inkonsequent das alles mit einer Note wieder gut zu machen. Nein, nein, das kann gar nicht gut laufen.

Vielleicht war ich wirklich nur zu naiv, um zu merken, dass Julius die ganze Zeit seinen Spaß dabei hatte. Zu sehen wie dieser arme Tropf keine Schmerzgrenze hat und man alles mit ihm machen kann. Sogar um den kleinen Finger lässt er sich wickeln. Ich lasse mich einfach nicht mehr verarschen. Problem gelöst. Siehst du, Julius? Ich gebe zu, dass ich ein Problem habe!

Und ich gebe zu, dass du die Ursache dieses Problems bist. Wahrscheinlich bist du sogar die einzige Lösung dafür. Aber dann schleppe ich diese Schulterlast lieber weiter mit mir herum, als mich nochmal auf dich einzulassen. Eher friert die Hölle zu.

„Ihr hab noch genau... eine Stunde. Vergessen Sie nicht, alles am Ende auf Rechtschreibfehler und inhaltliche Probleme zu prüfen. Zehn Punkte sind für die Form vorgesehen, also bitte sparen Sie auch daran nicht."

Ist Selbstmitleid wirklich so schlecht wie alle sagen? Fühlt sich eigentlich gar nicht so schlecht an – Okay, es ist beschissen, aber ich habe doch einen Plan. Nur noch den Jungen vergessen, der mir den Kopf verdreht hat, über ihn hinwegkommen und meinen ganz persönlichen Märchenprinzen finden. Vielleicht gehe ich dabei ja genauso vor wie Julius. Er ist schließlich nicht verletzt. Ganz im Gegenteil, er hatte seinen Spaß, hat jemanden, den er mag, Freunde und ein ziemlich gutes Pokerface. Er weiß ja nicht mal, wie dreckig es mir geht. Auch wenn ich das selbst gerade auch nicht merke. Trotzdem – und das ist eine Tatsache – begehre ich ihn noch. Also bin ich selbst schuld an meinem Leid. Das motiviert. Aber wenn ich mich wirklich so benehme wie er, dann will mich mein Prince Charming sicher auch nicht mehr.

Ob ich mir gerade ein Glas über den Schädel ziehen könnte, ohne es zu merken? So fühle ich mich jedenfalls. Aber ausprobieren möchte ich es dann doch nicht. Psychopathen haben es dabei sicher auch leichter. Oder Soziopathen? Nein, Sherlock hat ja auch Gefühle. Egal, wo war ich gerade? Ach ja, Selbstmitleid. Das Einzige, was mir noch zur Vollendung dieses Gefühls fehlt, ist Alkohol und einen One-Night-Stand, dann wäre ich sicher so wie einer dieser Typen in Büchern, der sich dabei selbst zerstört und erst die Liebe seines Lebens ihn wieder reparieren kann. Nun, bei mir ist es anders herum.

Wie konnte es eigentlich so weit kommen? Ich habe mir meine Blätter zurechtgelegt, mir dann einen Stift genommen... Der immer noch in meiner Hand liegt. Oops, er ist sogar noch offen. Wie lustig es aussehen muss, dass ich seit einer halben Stunde wie paralysiert vor mich hinstarre. Aus einem plötzlichen Impuls heraus möchte ich hysterisch vor mich hin kichern, aber schnell genug erreicht das Gehirn den Mund und schiebt einen Riegel davor.

Gezwungenermaßen, eine Neurose jeden Schülers, suche ich die Wände nach einer Uhr ab und verfolge den Sekundenzeiger in Gedanken. Noch fünfundvierzig Minuten. Miss Bennet schaut mich dabei so mitleidig an, als verfolge sie mein Nichtstun schon seit einer Weile. Entgeistert starre ich zurück. Ich will ihr Mitleid nicht! Sie hat kein Recht über mich zu urteilen, gerade jetzt nicht.

Die arme Frau beschäftigt sich beschämt mit ihren schmalen Fingern und rückt sich die Brille zurecht. Eigentlich eine durch und durch freundliche Person, für die ich im Moment aber nichts übrighabe. „Falls Sie Fragen haben, scheuen Sie sich nicht davor, sie auch zu stellen." Mit lauter Stimme richtet sie sich an den ganzen Kurs, als meine sie nicht ausschließlich mich.

Weitere zehn Minuten schweige ich meinen Platz an und bringe nichts zu Papier. Wenigstens trocknet mein Stift nicht aus, weil ich die Gnade habe, ihn wieder mit der Kappe zu vereinen. „Bitte geben Sie alle Blätter ab und schauen Sie, dass sie nichts vergessen haben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag." Mit diesen Worten beginnt das typische Rascheln der Schüler und alle bemühen sich darum, mit möglichst freundlicher Miene schnell aus dem Raum zu verschwinden. Auch ich packe meine Sachen ein und schleppe mich nach vorn. Erst sieht Miss Bannet so aus, als würde sie mir etwas sagen wollen, aber mein Gesichtsausdruck scheint Warnung genug zu sein. Leer wie ich bin, hoffe ich einfach, dass es ihr alle nachtun und mich heute niemand mehr anspricht. Ein Hoch auf das soziale Volk.

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