Kapitel 12

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Der nächste Tag startet genauso schön. Es ist so ein Morgen, an dem man federleicht und ohne Maulen aus dem Bett kommt, nicht aussieht wie ein Waschbär auf Drogen und genau weiß, was man anziehen möchte. Und zwar der rot-gelb gestreifte Strickpulli mit den passenden Socken und der weißen, breiten Hose. Dazu kommt, dass ich Konrad und seiner Gang auch nach der dritten Stunde nicht begegnet bin und es fühlt sich langsam so an, als würde Alltag einkehren. Ich quatsche viel mit Assia, was bedeutet, dass ich viel rede, sehe in den Fluren alte Bekannte wieder und erspähe zwischendurch August, der überall zu sein scheint. Nur Julius entdecke ich nie außerhalb des Englischzimmers.

Als ich am Pausenanfang durch die Flügeltüren gehe, wartet Assia schon auf mich. Sie wedelt zaghaft mit den Armen, um auf sich aufmerksam zu machen, scheint aber eher das Gegenteil erreichen zu wollen. Um sie zu erlösen überwinde ich unseren Abstand mit schnellen Schritten und wir gehen gemeinsam in den Speisesaal. Meine Begleiterin sucht uns einen geeigneten Tisch, wobei ihr Auswahlverfahren ziemlich klar wird. Niemand darf schon an dem Tisch sitzen, er sollte an mindestens zwei Wänden grenzen und am besten weit weg vom Eingang stehen. Mir ist es egal wo ich esse, deshalb trotte ich ihr wortlos hinterher.

»Hast du ein paar Tipps für Romulus?«, fragt sie mich kauend, als wir vor unseren beladenen Tellern sitzen. Heute gibt es einen Auflauf mit Spinat. Naja, eher Spinat mit Auflauf, wenn ich mir die Verhältnisse anschaue und diesmal natürlich ohne Käse. Der Lehrer, von dem Assia redet, ist mein Geschichtslehrer, Romulus Ryker. Ob das sowas wie ein Künstlername ist, weiß ich nicht, aber Anika schwört bei einer Klassenfahrt auf seinem Arm ein Tattoo mit den Initialen gesehen zu haben, was mich nicht wundern würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich bei seinem Unterricht um Augenzeugenberichte handelt. »Ja, ich hatte ihn vier Jahre in Geschichte. Der ist total verknallt in sein Fach, jedenfalls kommt das so rüber. Wenn er könnte, würde er, glaube ich, Latein als Staatssprache einführen und alles unter Denkmalschutz stellen.« Assia lacht kurz, wobei sie sich bemüht, nicht ihren Auflauf über den Tisch zu verteilen. »Stell dir das Mal vor! Er sitzt in Laken und Sandalen vor dem Schreibtisch und schreibt Liebesbriefe an Caeser.« – »Das ist gar nicht so abwegig! Welche Fremdsprache hattest du ab der siebten Klasse?«, frage ich sie weiter. »Italienisch. Aber ich habe schon vorher angefangen sie mir selbst beizubringen. Duolingo und so«, erklärt sie achselzuckend. Anerkennend nicke ich ihr zu und wir widmen uns unserem Auflauf. Die angenehme Stille hält aber nur gute zehn Minuten an.

Mein bester Freund steht, mit einem Tablett in den Händen, neben Assia und grinst mich verschwörerisch an. Und er ist nicht allein. Ein Stück neben ihm steht ein kleineres Mädchen mit kurzen, fast schwarzen Haaren und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Sie drückt sich ein Stück an Linus vorbei und stellt ihr Tablett ab. Mit einem Seitenblick zu Assia vergewissere ich mich, dass sie nicht sofort davon läuft, aber mit einem unruhigen Gesichtsausdruck lässt sie es über sich ergehen. Linus ergreift in dieser Sekunde das Wort und stellt sich und das Mädchen vor. Unsere neue Tischnachbarin heißt Cezara und ist scheinbar in unserem Jahrgang, obwohl ich mich an ihr Gesicht nicht erinnern kann. Die beiden haben sich in der Schülervertretung kennengelernt und durch Linus‘ Amt als Schülersprecher fast täglich gesehen, bis sie unzertrennlich wurden. Und das alles erfahre ich von ihm in den ersten drei Minuten, die er bei uns sitzt. Aufmerksam beobachte ich die beiden. Sie passt perfekt in Linus‘ Beuteschema: extrovertiert, zuvorkommend, energetisch und total motiviert.

Wir verwickeln uns sofort in ein Gespräch, als würden wir uns nicht gerade erst fünf Minuten kennen. Assia hält sich komplett raus. Beim näheren Hinsehen scheint sie sich sogar ein wenig an die Wand zu drücken. Mit einer beiläufigen Frage verschaffe ich uns ein paar Sekunden Zeit, in der ich Assias Blick einfange und fragend zur Tür deute, aber sie scheint in ihrer Position festgefroren zu sein und reagiert gar nicht. »Assia und ich wollten gleich Black Stories spielen, wollt ihr mitmachen?«, frage ich scheinheilig, als Cezara ihren letzten Satz zum Thema gesagt hat. Ich weiß genau, wie sehr Assia dieses Spiel liebt und vielleicht nimmt ihr das ja die Anspannung. Hier rauszerren werde ich sie auf jeden Fall nicht.

Alle stimmen zu, nur Linus kennt das Spiel nicht. »Ich zeige ein Bild und lese einen Satz vor, an dem ihr euch mit Ja-Nein-Fragen entlanghangelt. Es ist eure Aufgabe das Rätsel zu lösen, wobei es meistens um Morde geht«, erkläre ich ihm. Er nickt und reibt sich die Hände. Die Karte, die ich ziehe, zeigt zwei Männer, die vor einer Tür sitzen, mit der Aufschrift »Zwei Männer saßen eine Stunde lang vor einer geschlossenen Tresortür.« Meine Idee geht auf und alle raten fleißig mit. Linus hat am Anfang noch ein wenig Startschwierigkeiten, aber Cezara hilft ihm mit kleinen Fragetipps, ohne ihn dabei bloß zu stellen, was ich echt süß und gleichzeitig geschickt finde. Ich gönne Linus sein dümmliches Grinsen so sehr, denn es ist nicht so einfach jemanden langfristig zu finden, wenn die ganze Welt einen anhimmelt.

»Sind die beiden Männer vielleicht tot und ihre Leichen verwesen auf der anderen Seite, bis nur noch ihr Skelett übrig ist?«, ertönt zum ersten Mal im Spiel eine leise Stimme. »Was? Nein!«, rufe ich empört, aber total entzückt, weil der Kommentar von Assia kommt! »Also leben die beiden noch?«, versucht Linus sein Glück. Ich weise ihn lieber nicht darauf hin, dass wir diese Frage eigentlich schon geklärt haben. Cezara kommt dann tatsächlich auf die richtige Spur und danach löst sich alles relativ schnell auf. Mit dem Antworttext endet auch die Pause und Linus und Cezara verabschieden sich von uns. Beide umarmen mich, Assia winkt freundlich. »Danke, dass du da warst«, flüstert sie mir zu, als die anderen beiden in der Menge untergehen. »Nicht dafür. Magst du Linus nicht?« – »Nein, nein. Ich kenne Linus, er ist super. Cezara habe ich vorher noch nicht gesehen, deshalb, naja…« Mehr muss sie nicht sagen. Mein Herz zieht sich unangenehm zusammen und am liebsten würde ich sie mir jetzt über eine Schulter werfen und ganz weit wegbringen, wo sie nicht mit so vielen Menschen konfrontiert ist, aber dieser Plan scheitert nicht nur an dem sportlichen Teil. »Darf ich dich umarmen?«, frage ich sie sanft und ringe ihr damit ein schmales Lächeln ab. Zögerlich schüttelt sie den Kopf, bedankt sich aber ehrlich über meine Frage und ihre Haltung wirkt sofort entspannter. Schief grinse ich sie an und bin in dem Moment unerwartet stolz auf uns beide.

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