Kapitel 41

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„Da ist er ja wieder! Wie geht's wie steht's?" Eine wenig zurückhaltende Flut aus türkisen Locken stürzt sich auf mich. Den Schmerzenslaut kann ich nicht komplett unterdrücken, der von dem unangekündigten Überfall ausgelöst wird. Assia zieht sich erschrocken ein Stück weg, als sie versteht, wie weh mir das tut. „Entschuldigung! Wie geht es dir?" Hastig stolpert sie über ihre Worte. Zurück an meinem Tisch versuche ich mich wieder aufzusetzen und berichte ihr kurz und knapp, dass es mir gut geht und nichts ernsthaft verletzt ist. Als ich ihr gerade erklären möchte, wie dankbar ich ihr bin – ich kann es nur betonen – rast das nächste Duracell-Kaninchen auf uns zu und schnappt sich einen Stuhl. „Hey! Da ist ja der verlorene Prinz!"

Augusts Anwesenheit erinnert mich schlagartig daran, dass auch Julius hier sein müsste. Wissbegierig strecke ich meinen Hals, um an dem Lockenkopf vorbei zusehen, aber sein Platz ist leer. Kein Julius. „Wir haben noch zehn Minuten, vielleicht kommt er ja noch." August muss mein Blick aufgefallen sein, der alles andere als unterschwellig war. Als ich zu einem Nicken ansetzten möchte, wandeln sich Augusts Gesichtszüge von überschwänglicher Freude zu Besorgnis. Diesen Gesichtsausdruck habe ich inzwischen mehr als satt.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert? Und sitzt du schief?" Tatsächlich ist meine Sitzhaltung ein wenig geknickt, um mein Körpergewicht auf die Seite zu verlagern, auf der kein blauer Fleck prangt. Seine Aufmerksamkeit ist Fluch und Segen zugleich. Augusts Frage hat mir genauer betrachtet sogar mehr Informationen gegeben, als sie verlangt. Wenn August davon noch nichts mitbekommen hat, dann weiß niemand etwas davon. Und das soll auch so bleiben. Wiederum kann man August sowas doch erzählen...

Inmitten meines Dilemmas bekomme ich kaum mit, dass ich meinem Freund eigentlich noch eine Antwort schulde. Noch bevor ich den Mund aufmachen kann – wobei ich nicht weiß, was ich überhaupt gesagt hätte – springt Assia für mich ein. „Lustiger Zufall oder eher traurige Geschichte. Paul war am Mittwoch bei mir und ist voll die Treppe runter gefallen." Nicht die beste Ausrede, aber wenigstens mehr als mein Gestammel. „Autsch. Aber wohnst du nicht in einer Wohnung?" Assias Augen schießen zu mir, aber sie meistert die Situation glanzvoll. „Treppenhaus. Und wie das geschallt hat. Sah übel aus." Die Anspannung fällt von meinen Schultern, August hat es geschluckt. Mitfühlend klopf er mir auf die Schulter und steht wieder auf. Mister Wi steht schon vorn und wartet darauf, dass der Vorhang sich hebt. Stille kehrt ein.

Tonlos forme ich mit meinen Lippen ein „Danke", was die grün-blaue Lockenpracht mit einer angedeuteten Verbeugung herzlich annimmt. So viel Initiative hätte ich von ihr gar nicht erwartet, zumal es gegenüber unserem hibbeligen Freund war. Dieser kippelt angeregt, während er den Erzählungen des Lehrers folgt. Der Platz neben ihm ist immer noch leer. Vielleicht ist das ja auch gut so, ich habe ja nicht mal Worte gefunden, die ich August auftischen kann.

Ich sehe Julius' Abwesenheit als Chance, jetzt schonmal zu überlegen, was ich ihm eigentlich sagen möchte. Am liebsten würde ich all das wieder vergessen und einfach da weiter machen, wo wir aufgehört haben. Aber die Reaktion von Julius hat alles auf den Kopf gestellt, woran ich geglaubt habe. Ob August das auch so gehen würde, wenn er davon wüsste? Oder kennt er seinen Freund, mit allem was er ist?

„Kannst du die Lösungen bitte vorlesen, Paul?" Mit aufgerissenen Augen schnellt mein Kopf zu Mister Wi. „Wie bitte?" Grinsend rückt er seine Brille zurecht. Eine Antwort scheint er mir nicht schenken zu wollen. Ich beuge mich zu Assia und frage im Flüsterton: „Was soll ich machen?" Sie zeigt auf ihren Hefter, der offen vor ihr liegt und deutet auf ein Arbeitsblatt, dass wir als Hausaufgabe machen sollten. Gut, dass ich die Tage davor gefehlt habe, da habe ich sicher eine Ahnung von. Mit schiefer Stimme lese ich Assias Antworten vor, die ich gerade so im Augenwinkel lesen kann. Mister Wi scheint sich kaum für den Inhalt der Lösungen zu interessieren, behält sein freundliches Lächeln aber bei. „Danke, Assia. Perfekt gemeistert. Und Paul, wenn du das nächste Mal nicht da bist und Materialen brauchst, dann komm doch bitte vor dem Unterricht zu mir." Hitze strömt mir in den Kopf, während ich zaghaft nicke. Er hat vollkommen recht, Mist. Wo ist mein Kopf heute nur wieder?

Auf das Stichwort gleitet mein Blick zurück zu dem freien Stuhl, der wie bestellt und nicht abgeholt neben August auf seinen Besitzer wartet. Wo Julius wohl gerade ist? Hoffentlich nicht mit Liza unterwegs... Oh Gott, bitte nicht. Ob er heute den ganzen Tag nicht da ist? Aber dann wüsste August doch sicher davon, oder? Die Vorstellungen, wie wir uns wiedersehen, haben alle damit geendet, dass mir absolut nichts eingefallen ist, was ich sagen könnte. Oder was das Schokoauge sagt. Entschuldigt er sich? Oder hasst er mich jetzt, weil ich seine Teamkollegen angefallen habe? Es gibt zu viele Möglichkeiten, die alles, was zwischen uns ist, zerstören könnten. Es gibt um die vierzehn Millionen sechshundertfünf Möglichkeiten, die für mich schlecht ausgehen würden und nur eine Gute.

Am besten wäre es, wenn ich ihm einfach sage, was passiert ist. Und ihm meine Sicht der Dinge erkläre, vielleicht erzählt er dann ja, was ihn dazu gebracht hat. Aber weiß er nicht schon längst, was sie alles getan haben? Am liebsten würde ich meine Sachen zusammenpacken, ihn suchen gehen, dabei irgendeine Tür zuknallen und ihn zur Rede stellen. Und dann stellt sich heraus, dass er kurzzeitig erblindet ist und dachte ich wäre Konrad und dann sind wir wieder glücklich und laufen händchenhaltend über eine Blumenwiese. Ist das ein Deal?

Die restliche Stunde vergeht weiter so, ich in Gedanken, meine Mitarbeitsnote am Abrutschen. Am Ende des Unterrichts verabschiede ich mich von August und Assia und wir verabreden uns für das Mittagessen. Im Flur bin ich wachsam wie ein Jagdhund, immer auf der suche nach einem mir bekannten Blondschopf, aber auch jetzt lässt er sich nicht blicken. Bis zur großen Pause bietet sich mir aber auch keine Chance, ihn wiederzusehen, weil wir sowieso in getrennten Kursen wären. Das heißt wohl gedulden...

„Auf Wiedersehen, habt einen schönen Tag. Und vergesst den Abgabetermin bitte nicht." Mein stämmiger, vom Alter gezeichneter Physiklehrer packt seine Sachen zusammen und signalisiert uns damit, dass auch tun zu dürfen. Als hätten nicht alle ihr Zeug schon seit zwei Minuten in der Tasche. So habe auch ich schon meine Sachen verstaut und stecke zur Hälfte in meiner Jacke, um nach dem Startsignal aus dem Raum zu huschen. Die ganze Stunde musste ich mich zusammenreißen, nicht mit den Füßen zu scharren oder meinen Kugelschreiber klicken zu lassen, so hibbelig bin ich. Jetzt bekomme ich meine Chance Julius zur Rede zu stellen.

Mit einem gemurmelten „Schönen Tag" bin ich im Flur verschwunden und hüpfe energiegeladen die Stufen der Treppe hinunter, die sich durch das ganze Gebäude schlängelt. Ich muss nur noch meine Bücher in den Spind werfen und dann kann es zur Mensa gehen, wo sicher schon Assia auf mich wartet. Wie sie es schafft immer die erste zu sein, obwohl wir doch alle zur gleichen Zeit Schluss haben, eröffnet sich mir genauso wenig, wie Augusts Zuspätkommen Pause für Pause. Was treibt der Junge auf dem Weg von einem Raum zum anderen?

Abwesend steuere ich die nächste Biegung an, hinter der auch mein metallener Abstellplatz liegt, ehe ich haarscharf abbremse. Meine Bücher umklammernd, aus Angst sie würden wie meine Kinnlade runterfallen, bleibe ich stocksteif in dem Gang stehen. Keine Zweifel, Sorgen, Probleme rasen mehr durch meinen Kopf, es ist alles leer. Kälte greift mit ihren tropfenden, langen Fingern nach mir. Erbarmungslos gräbt sie ihre spitzen Nägel in meine Wirbelsäule und raubt mir meine eigene, beschützende Wärme. Ich habe Julius gefunden.

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