Kapitel 44

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Musik. Wenn ich an Musik denke, dann stelle ich mir die Gefühle vor, die ein Lied vermitteln kann oder das Zusammenbringen von den unterschiedlichsten Menschen durch ihren Musikgeschmack. Das Fach Musik hat das Gleiche auf andere Weise geschafft. Mit Quintenzirkeln, Xylophonen und Notenblättern hat es der Musik jeglichen Spaß ausgetrieben und die Menschen durch gemeinsames Leiden zusammengebracht. Aber eines muss man Musik lassen – es ist nicht Kunst. Dass man eines von beidem wählen muss, ist seit Generationen das Leidwesen der Schüler. Nun gut, ganz so schlimm ist es nicht. Wie gesagt, lieber Musik als Kunst. Und dass August und Julius in meinem Kurs sind, macht es deutlich besser. Naja, bis jetzt.

Ich hoffe einfach, dass es heute so wird wie immer. Unser Lehrer, der sich absolut keine Namen merken kann und sich selbst nur „Scotty" nennt, erzählt immer wieder Anekdoten aus seinem Leben. Die sind nicht spannend, haben keine Pointe und absolut keinen Inhalt, aber sie sind besser als Unterricht. Zusammen scherzen wir oft, wobei er Spitzen gegen einen fallen lässt, die als einfache Bemerkungen verkleidet sind. So hat er uns schnell dazu gebracht, trotzdem aufzupassen. Der Musikraum ist aber auch eine Ablenkung an sich – da überall Musikinstrumente stehen und Gitarren die Wände zieren, gibt es keine Tische, sondern nur verwaiste Stühle, die ohne sichtbare Ordnung im Raum stehen. Das gibt einem unaufmerksamen Schüler alles was er braucht, um zu wackeln, sich in alle Richtungen zu lehnen und zu zappeln wie ein Fisch an Land. Ich habe August inzwischen alles mit diesem Stuhl machen sehen, eher er sich zusammengerissen hat und still sitzen geblieben ist.

Auch heute sind die Sitzgelegenheiten so angeordnet, dass nicht mal ein Mathematiker darin Geometrie sehen könnte. Wir haben Scotty am Anfang des Semesters dazu überredet, das Stuhlkreiskonzept zu verwerfen und ganz normale Reihen zu bilden. Da August wie immer fast zu spät kommt und ich deutlich zu früh, weil meine Lehrerin eher Schluss gemacht hat, bin ich allein. Zum Glück hantiert Scotty noch an seinem Papierkram und so muss ich mich nicht mit ihm unterhalten. Ich schnappe mir Stühle, um auf geschätzter Höhe die Reihe aufzubauen. Kaum bin ich damit fertig, trudeln auch die anderen ein.

Der Musikkurs ist relativ leer, scheinbar haben viele ein anderes Verhältnis zu Kunst als ich. Anika ist eine der wenigen, die ich vor dem Kurs nicht nur vom Sehen kenne und wir grüßen uns. Als Julius den Raum betritt, schlägt mein lädiertes Herz ein wenig schneller. Diese Wirkung hat seine reine Anwesenheit auf mich und das Gefühl ist mir inzwischen so vertraut, dass ich es schweigend annehme. Die Hoffnung kommt Hand in Hand mit dem Kribbeln, dass sich unter meine Haut schleicht, aber ich trimme sie sofort wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Julius gerade hier ausschütten wird, also schicke ich diese Vorstellung wieder dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Eine kurze Unterhaltung unter Freunden würde mich schon beruhigen, aber das ist mir wohl nicht vergönnt.

Julius schmeißt seinen Rucksack neben seinen Stuhl und achtet darauf, einen Platz zwischen uns frei zu lassen, damit sich August zwischen uns setzen kann. Normalerweise quatschen wir vor dem Unterricht noch und geben den Platz erst frei, wenn August auch wirklich da ist, aber das ist heute anders. Sobald sich Julius von seiner Jacke befreit hat und sitzt, nickt er kurz in meine Richtung, vermeidet aber jeglichen Augenkontakt. Okay?! Ich hab's verstanden. Seine Nase steckt der Blondschopf in seinen Hefter und studiert seine Aufzeichnungen. Ich schätze außer kleine Zeichnungen wird er dort nichts finden, aber ich verstehe die unmissverständliche Botschaft. Dann halt keinen Wortwechsel.

Der krampfigen Situation entfliehe ich erst, als August dazukommt und sich so selbstverständlich wie immer mit uns unterhält. Bis dahin habe ich darüber gebrütet, ob ich ein Gespräch anfangen soll, ob die Erinnerung an meiner nicht jugendfreien Vorstellung von meinem Sitznachbarn und mir ordentlich verschlossen in einer Kiste in meinem Verstand steckt und wie ich es schaffen soll nicht zu zappeln.

„Hey, Leute. Was glaubt ihr machen wir heute? Das Schulhaus zusammenschreien, die Instrumente quälen oder über Noten philosophieren?" Achselzuckend tippe ich auf das Handtieren mit Instrumenten, die nicht die Klänge erzeugen wollen, die ich hören möchte.

„Nichts dergleichen, August, aber danke, für diese passende Überleitung. Heute wollen wir uns an einer Verständnisaufgabe probieren, die eure Kreativität fragt." Der Mann vor uns, ausgestattet mit Hosenträgern und schlecht getönten schwarzen Haaren, stößt auf wenig Zustimmung und jagt uns von den Stühlen. Scotty lässt uns Gruppen bilden und zeigt uns einen... Haufen Töne, die höchstens ein höheres Wesen als Musik betiteln würde. Für mich klingt das nach einem Anschlag auf mein Trommelfell, aber genauso soll es wohl sein, bestätigt mich Scotty. „Denkt euch eine Choreographie aus, die das Gefühl ausdrückt, welches das Lied euch vermittelt. Wir sehen uns in einer halben Stunde." Damit verlässt er den Raum und winkt einige Gruppen zu sich. Wenig begeistert schauen August, Julius und ich uns an, sind aber froh, nicht unter der Aufsicht von Scotty arbeiten zu müssen.

Während meine Laune gerade gefährlich vor dem Abgrund baumelt, lässt sich August den Spaß nicht nehmen. Er schaltet die Anlage an und verrenkt sich zu einem Knoten. „Soll das Tanzen sein?", frage ich belustigt. August versteht die Kampfansage und kommt springend auf mich zu. Ich erwarte Schlimmstes. Der Lockenkopf schmeißt seine gefütterte Jeansjacke Richtung Stuhl und wippt mit dem Kopf wie ein Vogel beim Paarungstanz. Ich kann mein Lachen nicht mehr zurückhalten und pruste los. Julius wirkt eher unbeeindruckt und verzieht keine Miene. „Noch lachst du, aber warte, bis wir das dem Kurs zeigen müssen!" Der Beannieträger geht in die Hocke und springt mit einer wellenartigen Bewegung wieder auf. Egal wie bescheuert das aussieht, es sieht nach Spaß aus.

Ungehalten mache ich mit und werfe mich in alle Richtungen, wackle dabei mit meinen Armen und lache Tränen. August freut sich über meine Unterstützung und zieht mich zu sich, ehe er mit einer zweiten, wellenartigen Bewegung anzüglich sein Becken in meine Richtung bewegt. Mehr als sich darüber totzulachen, schaffe ich nicht. „Komm schon Paul, das schaffst du doch auch!" Ich deute ein Augenrollen an, stürze mich aber auf August. Ich gebe mein bestes um einen halbwegs vernünftigen Twerk hinzulegen, aber meine Hüften machen dabei alles, nur keine flüssige Bewegung. Lachend und mit gekreuzten Beinen, sacke ich auf dem Boden zusammen und mache dort einfach weiter. Ich bin dabei so mit mir beschäftigt, dass ich nicht mitbekomme, was um mich herum passiert, ehe Julius' gereizte Stimme die Luft zerschneidet.

„Du Fickstück! Macht eure Spielchen woanders." In Alarmbereitschaft stoppe ich in der Bewegung und drehe mich zu den beiden. Julius hat sich vor August aufgebaut, was ziemlich seltsam aussieht. Julius' Mund verzieht sich zu einem gequälten Lächeln, dass überhaupt nicht in die Situation passt und August steht daneben, scheinbar nicht beleidigt und grinst. Sein Kichern löst mich aus meiner Starre und ich stehe auf. Wenn das ein Scherz war, dann war er sehr komisch. Ich gebe ein gezwungenes Lachen zu meinem Besten, um zu entwarnen. Wäre es nicht Julius gewesen, hätte ich alles gemacht, aber nicht gelacht.

Dieser „kleine Spaß" beendet unsere Tanzeinlage und wir bekommen tatsächlich einige Bewegungen zustande. Dass wir bei der kurzen Präsentation beinahe komplett freestylen, scheint Scotty nicht zu stören und Anika zieht aus diesem wenig aussagenden Haufen einige Intentionen, die sie aus der Performance liest, zwinkert uns aber wissend zu. Dankbar bestätigen wir ihre herbeigezogene Interpretation und haben die Stunde geschafft.

Draußen wartet schon Assia auf mich, damit wir zur Mensa gehen können, aber August möchte noch etwas in seinen Spind bringen und wird von Julius begleitet. Assia und ich tauschen kurze Zusammenfassungen der Stunden aus und suchen uns den passenden Platz, ehe wir uns unser Essen holen. Irgendwann tauchen dann auch die beiden Jungs angeführt von Julius auf, während August sein Tablett balanciert. Winkend mache ich auf uns aufmerksam, da man schnell mal jemanden in der Halle übersehen kann. Julius' Augen streifen suchend durch die Menge, bleiben aber nicht länger bei mir hängen, als bei jedem anderen. Mit einem Kopfnicken zu seinem Freund sucht er ihnen einen Tisch weit hinter uns und sie setzen sich. Okay? Soll ich kurz zu ihnen gehen, falls mich Julius wirklich nicht gesehen hat?

„Wo bleiben die denn?", fragt mich Assia ungeduldig. Sie möchte August unbedingt irgendetwas erzählen, aber ich habe nicht mitbekommen um was es geht. Der Lockenkopf konnte die beiden gar nicht sehen, weil sie mit dem Rücken zu ihnen sitzt und sie nicht hat kommen sehen. Ehe ich verstehe, was aus meinem Mund kommt, antworte ich ihr: „Sie haben sicher noch irgendetwas zu tun." Denke ich mir gerade eine Ausrede für Julius aus?! Achselzuckend isst Assia weiter und erzählt mir von ihren Wochenendplänen. Ich versuche ihr zu folgen, bin aber noch bei der Aktion von Julius. Er hat mich vorhin schon ignoriert, wird mir klar. Das war kein Versehen. Sollte das auch so ein schlechter Scherz sein?

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