Kapitel 33

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„Ich gehe noch die restlichen Blätter kopieren. Der Raum ist stromversorgt und weiß, wenn ich wiederkomme hat er bitte denselben Zustand." Mister Wi weht mit einem einzelnen Blatt aus dem Raum, ohne uns noch weiter zu beachten.

„Wie würdest du das anordnen? Erst die Veränderung bei Autoritäten oder das Bewertungssystem?" Julius neben mir ist so vertieft in unsere Notizen, dass er Wis Verschwinden gar nicht bemerkt. Eine Hand hat er gegen den Kopf gelehnt, während die andere über den Zeilen schwebt, die wir am Wochenende verfasst haben. Ich beantworte ihm seine Frage und lasse es mir nicht nehmen, mich über die Notizen zu beugen, die vor ihm liegen. Kleine Berührungen und Aufmerksamkeiten, hat Linus gesagt. Das werde ich doch wohl hinkriegen! In Zeitlupe und mit Bedacht nähere ich mich dem Blatt und stoße hauchzart mit dem Knie gegen seines. Hat er das gemerkt? War ihm das zu viel? Rückt er jetzt weg? Nichts von alledem tritt ein und wir arbeiten in dieser Position weiter. Ob ich mich freuen oder enttäuscht sein soll, weil nichts passiert ist, weiß ich nicht.

„Paul, du Pussy, schaust du dir bei Julius ab, wie Männlichkeit funktioniert?" Die verachtende Stimme komm von der offenen Tür, an der Josh vorbeigeht. Sein verhöhnendes Lachen hört man noch die Stufen hinunter. Meine Kiefer dreschen gegeneinander, ich schließe die Augen. Hat er das gerade wirklich gesagt, oder war das ein Alptraum? Aber ich sitze immer noch hier, wache nicht auf. Jeder in diesem Raum hat das gehört. Jeder.

„Paul..." Julius weiche Stimme holt mich in die Welt zurück, aktiviert mich. Ich fasse keinen klaren Gedanken, alles rauscht an mir vorbei, nichts ist greifbar. Nur die Blicke von zwanzig Paar Augen. Niemand sollte jemals mehr versuchen mich kleinzumachen, denn ich bin nicht klein.

Eine Sturmflut der Wut reißt mich mit sich, trägt mich auf ihren Wellen und rinnt durch jeden Muskel. Ich springe auf, ungeachtet, was dabei mit Julius oder dem Stuhl passiert und presche durch die offene Tür, die mit einem besiegelnden Schlag zufällt. Josh ist längst über alle Berge, das hält mich aber nicht auf. „Hey, wo willst du denn hin?" Mister Wi taucht vor mir auf, ich gebe mir gar nicht erst die Mühe auszuweichen und rassle mit voller Wucht gegen ihn. Ein Stapel Blätter landet verstreut auf dem Flur, ehe er mir irgendetwas hinterherbrüllt. Ich nehme seine Worte nicht wahr, sie vermischen sich mit dem Rauschen in meinen Ohren, werden zu einem dumpfen Basston.

Die einzigen Emotionen, die ich fassen kann sind Zorn, Rachedurst und Verzweiflung. Ich weiß nicht mal so genau, wieso ich so austicke, aber es reicht mir. Ich blühe auf in meinem Inneren, erhebe mich zu einem Wesen, dem nichts im Weg zu stehen scheint. Aber wer hoch hinaus will, fällt auch tief.

„Paul, komm schon! Warte!" Eine Stimme gräbt sich durch das Rauschen, wie das Licht der Sterne durch die Dunkelheit. Was mache ich hier? Hier ist niemand, dem ich die Schuld geben kann, niemand, der es verdient hat grün und blau geschlagen zu werden. Ich bin allein. Schon wieder.

Mit noch schnelleren Schritten jage ich die Treppen hinunter, ignoriere meinen Verfolger und verkrieche mich in die dunkelste Ecke die ich finde. Es ist eine Nische vor einem der Kellereingänge, die sich um eine Ecke windet.

Meine Arme um die Beine geschlagen und den Kopf darauf gelegt, wird es mit einem Mal still. Und mir wird bewusst, was mit meinem Körper passiert. Mein eigener Herzschlag pulsiert in meinen Ohren, durchflutet meinen ganzen Schädel, der unendlich schwer wird. Ich gebe mir nicht die Mühe, meine Atmung ruhig zu halten, lasse sie dem Rhythmus meines viel zu schnellen Herzens folgen. Mein restlicher Körper wird ganz kalt. Ich kann spüren, wie die Farbe aus meinem Gesicht rinnt, man könnte fast meinen, dass sie von meiner Nasenspitze auf den Boden tropft. Fühlt sich eine Panikattacke so an? Ich habe noch nie eine erlebt, aber in diesem Moment bin ich mich mir sicher, dass ich aus dem Strudel nicht mehr herauskomme.

„Hey, Großer." Die Stimme ist wieder da, ganz nahe. Dieses Mal ist sie aber nicht von Schritten begleitet, dafür ist die Stimme auch viel zu leise, zu sanft. „Ich werde gleich zählen und dabei atmen, damit es dir besser geht. Aber das geht nur, wenn du auch mit machst, okay?" Ich rühre mich nicht. Lasse mir den Takt meiner Atmung von meinem Zittern vorgeben. Die Stimme zählt laut bis vier, während sie einatmet, wartet sieben Sekunden und atmet dann geräuschvoll aus, bis wieder die Zahl Acht erreicht wurde. Ohne bewusst mitzumachen, finden wir einen Rhythmus, atmen zusammen. Im Kopf zähle ich mit, halte mich weniger an die Geräusche des Anderen und werde selbstständiger. Mit einem letzten Herzstolpern wird der Druck in meinem Kopf unerträglich und ist keine Sekunde später verschwunden. Und mit ihm wird auch das laute Pochen meines Herzschlages davongetragen.

„Mach die Augen auf." Mein Körper vertraut der Stimme, handelt wie befohlen und erkennt sie. Zwei durchdringende, dunkle Augen sitzen mir gegenüber; sie sehen besorgt aus. „Ich hol dir jetzt etwas zu trinken, Paul. In der Zeit legst du dich bitte flach auf den Boden und platzierst die Füße auf der Treppe so, dass sie höher stehen, als du liegst." Ohne eine Erklärung verschwindet das Gesicht und irgendwie schaffe ich es zur Treppe, lege mich hin und winkle meine Beine an. Schon nach wenigen Sekunden läuft wieder Blut in meinen Kopf und spült meinen Verstand frei.

Eine Weile muss ich so gelegen haben, es kommt mir vor wie Sekunden, da taucht schon wieder der Blondschopf mit einer Flasche Wasser auf. „Danke." Seine Miene hellt sich auf. „Da bist du ja wieder. Fühlt sich gut an, stimmts?" Nickend kralle ich mir die Flasche und trinke sie mit gezielten, langsamen Schlucken aus. Ich wische mir die letzten Tropfen vom Kinn und stelle sie auf dem Stufen ab. „Woher kennst du dich so gut damit aus?" Julius lächelt zurückhaltend. „Ich hatte doch mal diese Sportverletzung. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mein Kreislauf sich davon erholt hat und ich wieder die nötige Ausdauer hatte. Mehr als einmal musste mein Trainer mir damals Hilfestellung geben."

Die Konsequenzen ignorierend schließe ich den Blondschopf auf wackligen Beinen in eine Umarmung. Mein Kopf legt sich auf seine Schulter und ich genieße es, mich für einen Moment nicht selbst auf den Beinen halten zu müssen. Julius legt nun auch die Arme um mich und ich glaube fast, dass er mich fester hält als nötig, um mich zu stützen.

Zu meinem Bedauern lösen wir uns nach einigen Augenblicken doch noch. „Ich geh nochmal auf Klo, geh ruhig schon vor." Dass ich in einem Spiegel checken will, ob ich so beschissen aussehe, wie ich mich fühle, muss er ja nicht wissen. Julius versaut mir meine Pläne, indem er beteuert mit mir zu kommen, falls ich nicht doch zusammenklappe. Das glaube ich aber nicht, denn es ist tatsächlich so, als wäre nichts gewesen. Und das Julius den roten Schleier auf meinen Wangen der Situation zuschreibt, kommt mir nur entgegen.

Die Flure sind totenstill, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Julius öffnet die Tür zum WC knarzend, aber ich husche an ihm vorbei, ehe er den Raum betritt. Das Grinsen vergeht mir aber gewaltig, als ich die Geräuschkulisse wahrnehme, die sich uns bietet. Ein weibliches Stöhnen dringt durch eine der Kabinen, gefolgt von einem Schmatzen. Ein zweites, höheres Keuchen kommt dazu. Es klingt fast so, als folgen sie einer Melodie, die nur sie hören können. Halleluja. Da wir auf dem Jungsklo sind und die Geräusche von zwei weiblichen Stimmen kommen, musste es wohl schnell gehen. Und wenn ich meinem Gehör trauen kann, dann vergnügt sich dort eine hellblonde Lockenmähne mit dem Mädchen mit den rotangemalten Lippen. Ich hätte das Anika nicht zugetraut. Es ist mitten in der Stunde, aber die beiden lassen sich nicht stören. Müssen die einem unter die Nase reiben, dass sie sich haben?

Julius und ich schauen uns mit großen Augen an und sein Kopf verfärbt sich langsam rot, als würde er jeden Augenblick vor Lachen explodieren. Ich lege einen Zeigefinger auf meinen Mund und wir grinsen uns wortlos an. Schnell spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und hoffe, dass ich nicht allzu fertig aussehe, ehe wir aus dem langsam eng werdenden Raum flüchten.

Wir beide sprechen nicht über das Ereignis, lachen aber ungehalten auf dem Rückweg zum Kurs. Dieses Mal ich es mir nicht peinlich vor den andere zu stehen, denn ich weiß, dass mindestens einer für mich da ist und niemand anderen brauch ich.

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