Am Pausenende stehen Assia und ich vor einem der schwarz glänzenden Bildschirme, die uns nur frohe Botschaften verkünden. Der Vertretungsplan. Tatsächlich haben wir Glück und der nächste Kurs fällt aus, wobei das auch ruhig vor der Pause hätte angezeigt werden können… Assia hätte 75 Minuten Geschichte und ich Mathe gehabt, die sich gerade in Freizeit verwandelt haben.
»Ach wie blöd, ich hab danach noch Bio, nach Hause schaffe ich es niemals in der Zeit! Wie sieht’s bei dir aus?«, frage ich die Grünhaarige. Sie selbst hat noch Sport, überlegt aber nicht hinzugehen. »Wieso nicht?«, frage ich erstaunt nach. Assia war bisher immer mindestens zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn morgens an ihrem Platz und wirkte bisher nicht so, als würde sie mir nichts dir nichts eine Stunde schwänzen. »Ich habe meine Sportsachen vergessen und möchte nicht in den Klamotten Sport machen…«, druckst sie und knetet dabei ihre Hände. Irgendwie kann ich sie auch verstehen, aber deshalb eine Stunde verpassen?»Schaffen wir es nicht in der Freistunde zu dir zu fahren und sie zu holen?« Der türkise Lockenkopf tapert von einem Bein aufs andere und schiebt sich eine Locke hinters Ohr. Direkt tut es mir leid, dass ich sie wieder so nervös gemacht habe.
»Das muss nicht sein, ist ja nicht so schlimm«, versucht sie sich aus der Affäre zu ziehen, aber da kennt sie mich schlecht. Stöhnend kommentiere ich ihren Missmut. Jetzt ist es an mir, Initiative zu zeigen. »Wie weit wohnst du von hier weg?« – »Zehn Minuten«, kommt es zaghaft zurück. Ohne ein Ohr für Widerworte, schnappe ich mir ihre Hand und ziehe sie hinter mir über den Flur. Trotz eines anfänglichen Brummens lässt sie sich mitziehen und wir schaffen es ohne Unfälle die Treppe herunter. Erst als wir außerhalb des Schulgeländes sind, gebe ich Assia frei. Sie quittiert mich mit einem Musste-das-sein-Blick und läuft los. Tatsächlich brauchen wir nur zehn Minuten, bis wir in einem Altbauwohngebiet landen.
Alle Häuser sehen irgendwie gleich grau aus, nur die Balkone explodieren vor Leben. »Was möchtest du eigentlich in deiner Zukunft machen?«, fragt mich Assia nach eine langen Pause. Okay? Aber nach meiner Aktion möchte ich sie nicht noch mehr verunsichern, also antworte ich frei heraus: »Die Frage aller Fragen! Echt, würde ich jedes Mal, wenn sie mir dieses Jahr jemand stellt eine Blume kriegen, hätte ich den Strauß schon voll! Aber weil du es bist… Sportreporter. Ich habe immer überlegt mein Hobby zum Beruf zu machen, aber Profifußballer zu werden, ist mir viel zu riskant. Da schätze ich finanzielle Sicherheit einfach zu sehr.« Zustimmend nickt Assia. »Ich kann das voll verstehen. Früher wollte ich immer eine Künstlerin werden, aber heutzutage davon zu leben kann ich mir nicht vorstellen. Aber zum Glück war ich immer schon gut im Sprachenlernen, deshalb möchte ich Übersetzerin werden.« Das klingt auch total interessant! Ich kann mir das richtig gut bei ihr vorstellen! Während wir durch den Hausflur marschieren, frage ich auch sie ein wenig dazu aus. Es gibt in England wohl nicht so viele Unis, die Arabistik als Fach anbieten, aber der Berufswunsch ist ihr schon so schwer gefallen, dass es für einen Plan B nicht reicht.
Meine schüchterne Freundin schließt wortlos die dunkelgrün lackierte Tür auf und steuert auf die nächste Tür zu. Der kurze Flur ist in warmen Erdtönen gehalten, helle Brauntöne und weiße Akzente umspielen die Wände. Unsere Rucksäcke und Schuhe lassen wir liegen und huschen weiter ins Wohnzimmer. Die schmalen Fenster beleuchten dieses Zimmer nur spärlich, weshalb überall kleine bunte Lampions von der Decke hängen. Assia schlüpft an mir vorbei, um mir einen Einblick in ihr Zimmer zu gewähren.
Im Gegensatz zur restlichen Einrichtung ist hier alles in Weiß und Türkis gehalten. Naja, soweit man das erkennen kann. Die Wände sind behangen mit den verschiedensten Blättern. Assia hat hunderte Geschichte an die Wände gebracht. Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll, jede Zeichnung ist ein Blickfang für sich. Manche Schwarz-Weiß, manche strotzen nur so vor Farben. Manche sind riesig und wieder andere haben nur die Größe meines Daumens. Wie erschlagen bekomme ich keinen weiteren Schritt durch diese Tür.
Während Assia geräuschvoll ihr Zeug ablegt, betrachte ich ihre Kunstwerke genauer. Die Zeichnungen ähneln den Figuren aus ihrem Skizzenbuch, viele mit lockigen Haaren, einige mit Sommersprossen. An manchen Bildrändern tummeln sich Wörter, die von Gänsefüßen umrahmt werde, manchmal sind es auch kleine Tiere. Mir fallen sofort zwei männliche Bildfiguren auf, die immer zusammen auf ganz vielen Bildern sind. Umarmend, trauernd, in Uniform, auf dem Schlachtfeld, mit anderen Figuren, manchmal sogar als Kinder. Assia stellt sich hinter mich und schaut mir über die Schulter. Ihre Nervosität knistert durch den Raum.
»Die Bilder sind der Wahnsinn! Wer sind die beiden? Ihre Geschichte muss unendlich traurig sein«, frage ich völlig fasziniert. Vor mir hängt ein Bild, auf dem einer der beiden auf dem Boden liegt, Blut besudelt seine Uniform, während der andere schreiend über ihm kniet. »Les Miserable. Erinnerst du dich?« – »Natürlich.« Einen Moment schweigen wir noch. Ich nehme immer mehr Eindrücke in mich auf, lasse mich in dem Strom der Lebensauszüge treiben. Jede Szene scheint die Atmosphäre dieses Raumes wie ein Mosaik, Stein um Stein, Bild um Bild, zu vervollständigen. Düstere Szenarien, die den Tod abbilden oder trauernde Menschen, lassen jede Zimmerecke mysteriöser wirken. Aber egal in welcher Situation, die Figuren haben sich. Betrübt lass ich meine Schultern sinken. Assia hat sich inzwischen ihren Schreibtischstuhl geschnappt.
»Was ist los, Paul?«, fragt sie und erstaunt mich wieder mit ihren empathischen Fähigkeiten; ihr bleibt auch kein Gefühl verborgen. »Ach, schon okay. Es ist nur so schade, dass wir nicht in solchen Geschichten leben. Also nicht der Kram mit dem Sterben, der Fröhliche halt. Die beiden wurden als Paar konzipiert, perfekt zu einander passend, quasi Schicksalhaft. Wie beschissen, dass das im echten Leben nicht so vorherbestimmt ist.« Meine neue Freundin hört mir aufmerksam zu, schweigt aber. »Was ist mit dir?«, frage ich immer noch abwesend. »Ich war bisher in keiner Beziehung, aber ich weiß was du meinst. Manchmal hätte ich auch gern jemanden zum Quatschen, Umarmen und so. Aber ohne den anstrengenden Teil.« Kichernd schreite ich zu ihr und lege die Arme um ihre Schultern. »Aber dafür brauchst du doch keine Romanzen! Du hast doch jetzt mich!« Grinsend schüttelt sie mich ab und reckt das Kinn nach vorn. »Ich weiß und wenn man allein unglücklich mit sich ist, dann macht eine Beziehung das auch nicht besser«, verspricht sie mir, schnappt sich ihre Sportklamotten und verschwindet im Bad.
Wenig später steht sie umgezogen vor mir und lässt die Schultern hängen. »Ich habe keine Lust auf Sport«, hängt sie mir jammernd in den Ohren, aber dagegen kann selbst ich nichts einwenden. Entweder man hat daran Spaß oder nicht und gerade beim Schulsport trifft eher letzteres zu, aber in unserem Schulsystem kann man danach leider nicht gehen. Warte, hat Assia gerade gejammert? Das ist das erste Mal, dass sie mir offen eine negative Emotion zeigt! Vielleicht fühlt sie sich jetzt endlich sicher genug in meiner Umgebung, das wäre so schön! »Ach komm, dass wird bestimmt lustig! Stell dir einfach deinen Sportlehrer als kleinen moppeligen Jungen vor, der Anweisungen brüllt«, versuche ich es grinsend. Wenig überzeugt zwingt sie sich zu einem Nicken. Wir machen uns auf den Weg zurück zur Schule, während sich Assia ihre Folter auf dem Platz ausmalt.
DU LIEST GERADE
Be My Cookie (boyxboy)
RomancePaul ist Captain einer Fußballmannschaft und versucht die zwölfte Klasse zu überleben. Trotz neuer Freunde, die ihn gegen alte Feinde unterstützen, macht ihm das gegnerische Team das Leben schwer. Obwohl sein Schwulsein nie ein Geheimnis war, bringt...