Kapitel 62

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Wer auch immer auf die Idee kam, einen Wecker mit Tageslicht auszustatten, muss ein Menschenfreund gewesen sein, ein Philanthrop. Auch wenn ich ihm oder ihr gerade nicht danken kann, aber Assia ihn eingepackt hat, bekommt sie all meine Zuneigung zu spüren, indem ich mich auf leisen Sohlen ins Bad schleiche und sie noch ein paar Minuten länger schlafen lasse.

Ich wasch mir die Nacht von der Haut, die Tropfen fallen laut auf den Keramikboden der Dusche und wecken mich damit endgültig. Keine zehn Minuten später habe ich halbwegs ordentlich den Rest erledigt und stupse meine Mitbewohnerin leicht an. Sie wacht unter meiner sanften Stimme auf und huscht kurz danach auch in den inzwischen aufgewärmten Raum. Zwar braucht sie ein klein wenig länger als ich, der Schlaf sitzt auch danach noch tief in ihren Bewegungen, aber in der Zeit gehe ich den häuslichen Pflichten wie Lüften, Bettenmachen und Beutel samt Einkaufszettel zusammensuchen, nach.

Da Linus schon immer schwer aus dem Bett kam, haben wir gestern Abend ausgemacht, dass Cezara und Linus sich um das Frühstück kümmern sollen, während Assia und ich einkaufen gehen. Noch einen Abend möchte ich keine Suppe essen, weshalb wir gestern noch einen Zettel geschrieben haben, mit Zutaten die wir zum Kochen brauchen.

„Bist du sicher, dass wir nur fünfzehn Minuten laufen müssen, Curly?" Dass sich diese Frage nach zwanzig Minuten erübrigt hat, merke ich dann auch. Auf dem Waldweg, dem wir eine gute halbe Stunde folgen, hängt noch der Duft nach Regen von gestern Abend und lässt Nase und Lunge wieder richtig arbeiten. Dass wir länger brauchen als Assias Schätzung war mir von Anfang an klar, aber im Grunde macht es nichts. Es ist kalt genug, als dass die Lebensmittel in der Zeit nicht verderben.

Als wir den kleinen Supermarkt sehen, auf dessen Parkplatz sicher nur um die zehn Autos passen, schnappen wir uns einen Wagen, den Assia durch den Laden schiebt und ich werfe alles hinein, was der schlaue Zettel verlangt. Keine zwanzig Minuten später sind wir auch schon durch den ganzen Laden gekommen, schon allein deshalb, weil wir bei der kleinen Auswahl nie lange überlegen müssen und werden von dem Mann an der Kasse begrüßt. „Ich sehe, dass heute Abend gut gekocht wird. Was soll es denn geben?" Der Mann Anfang zwanzig grinst uns mit seinen schwarzbemalten Lippen an. Seine nicht zu seinem Look passenden Hundeaugen sind passend dazu mit schwarzem Khayal umrahmt. „Wir versuchen uns an einem Thai Curry." Assia sieht leider nicht, wie der junge Mann bei ihrer Antwort zu strahlen beginnt, weil sie ihre Augen nur auf den Boden richtet. „Eine sehr gute Idee! Aber warten Sie bitte noch, ich hole kurz etwas, was Ihnen dabei weiterhelfen würde."

Ein wenig planlos warten wir wie befohlen, ehe der Mann mit dem stacheligen Irokesen und den klirrenden Ketten zurückkommt und uns einen Korb Bohnen und Erdnüsse in den Beutel packt. „Nehmen Sie die mit, die Bohnen bringen noch ein wenig Farbe hinein und passen ganz wunderbar zu den Erdnüssen, die sie kleinhacken können." Ohne Geld dafür zu verlangen, wünscht er uns einen schönen Tag und guten Hunger. Von seiner Hilfsbereitschaft verdattert, lasse ich mir von Assia erklären, dass sie den Mann von einigen Urlauben kenne und schon nicht mehr als Touristen angesehen würde. „Er heißt Tommy oder so, auf jeden Fall ist er hier geboren und hat schon als er deutlich jünger war in den Feriensaisons ausgeholfen."

Während ich mir Geschichten über die Dörfler erzählen lasse, gehen Assia und ich zurück zu der Waldhütte, wo uns der Duft nach frischen Brötchen entgegenkommt. Einer der beiden Zurückgebliebenen muss in der Zwischenzeit beim Bäcker, „keine zehn Minuten von hier" gewesen sein. Mit vereinter Kraft packen wir die Lebensmittel an ihren Platz und schlagen uns dann die Bäuche voll. Belag und Marmeladen haben wir selbstverständlich auch aus dem Laden mitgebracht.

„Wollen wir heute mal die Gegend erkunden? Auf dem Weg zum Bäcker habe ich einige Ortschilder gesehen, die alle gar nicht so weit weg klangen. Oder sind die wie deine Zeitangaben?" Assias Gesicht nimmt einen rosigen Schimmer an, erzählt uns dann aber von einem Weg, der zwar kein offizieller Wanderweg ist, über den man aber einen Ausblick auf die Seen hier hat. Diesmal sei er auch wirklich nicht so weit, eben ein gutes Tagesziel.

Der Plan steht und sobald noch die letztem Arbeitsplatten abgewischt sind und das Haus ausgehfertig bereitet ist, geht es auch schon los. Der Himmel hat sich inzwischen freigezogen und die letzten Wolken verziehen sich im Laufe der nächsten Stunde endgültig. Ich bin froh, dass mir meine Mum von allen etwas eigepackt hat, sodass ich dank des Zwiebelprinzips nicht im meinem Pulli umkomme. Was Assias Schwärmereien von der Natur hier angeht, hat sie nicht gelogen und tatsächlich bleiben wir mehrmals stehen, wenn sich der Ausblick lohnt genossen zu werden. Linus und Cezara halten natürlich den ganzen Weg über Händchen, wirken dabei aber so liebevoll, als dass man nichts dagegen haben kann. Gut, ein wenig eifersüchtig bin ich schon, aber wenigstens möchte ich mir diesmal nicht die Haut von den Knochen schälen, also sehe ich es als Fortschritt. Die Gedanken an den Jungen, dessen Namen ich jetzt ganz sicher nicht denken werde, sind so blass wie nie und geben mir den Freiraum, den ich mir so ersehnt habe.

„Assia? Bist du sicher, dass das hier so lang gehen soll?" Linus, der an der Spitze läuft, ist stehen geblieben und schaut nach unten. Als wir ihn einholen begreife auch ich, was er meint. Vorher war der Weg eher ebenerdig und dank des Laubs wusste man eh nie, ob da unter ein Sandweg ist oder gepflastert wurde, aber hier gibt es auf einmal gar keinen Weg mehr. Oder einen Boden. Steil geht es einen Hang runter, dessen Abstieg sich aber zu lohnen scheint.

Von hier aus kann man einen Steg sehen, der ein Stück weit in den strahlend blauen See führt, dessen Ende man nur erahnen kann. Den Grund am Ufer kann man sogar von unserer Position aus sehen, während sich eine Masse hoher Baumkronen auf Inseln durch den See schlagen. Sie müssen Naturschutzgebiete sein, so grün wie sie sind, den Boden könnte man sicher nicht mal von nahem erkennen.

„Wenn du ein paar Fuß nach rechts schaust, dann müsstest du eine schmale Treppe sehen." Assia deutet auf eine Stange, die sich den Hang runterschlängelt und tatsächlich sind schmale Steinplatten so in den Abgrund gegraben, dass sie mit viel Phantasie eine Treppe bilden. Nach einander klammern wir uns an die Metallführung uns setzen Fuß um Fuß nach unten, was durch die Steigung leichter aussah, als es sich anfühlt.

Ein deutliches Durchatmen entfährt uns alle, als wir sicher auf dem Waldboden angekommen sind. Von hier aus sieht die Landschaft noch atemberaubender aus, als es vorhin schon der Fall war. Jetzt kann man auch das kleine Häuschen sehen, das nahe am Ufer steht und drum herum im Gras schmale Boote verteilt sind. Als Cezara zum Wasser läuft, natürlich folgen ihr alle, halten wir unsere Hände in das klare Nass und genießen wortlos den Ausblick. Manche Dinge muss man nicht aussprechen, um sich darüber einig zu sein.

Die angenehme Stille wird jedoch schnell durch schwere Schritte verjagt, die hinter uns zum Stehen kommen. Als ich mich umdrehe, steht ein vom Alter gezeichneter Mann vor mir, beladen mit breiten Schultern, einem grauen Seemannsbart und rundem Bauch, der eher vom Alkohol zu stammen scheint, als von Essen. Seine schweren Stiefel müssen mit Metall verstärkt sein, um so laut zu klingen und generell ist seine ganze Kleidung ausgetragen und grau. Alles in allem macht er einen ziemlich einschüchternden Eindruck, unter dem ich zurückweichen würde, wäre hinter mir kein Wasser.

„Könnt ihr mir helfen, Jünglinge?" Seine Stimme klingt unermesslich tief und rau. Sie klingt, als hätte er schon seit Jahrzehnten seiner Crew Befehle zugerufen. Jetzt drehen sich auch die anderen um, wobei ich vor allem in Linus' Augen den gleichen Argwohn sehe, den auch ich spüre. Assia wiederum beginnt nur zu grinsen und gibt mit flötender Stimme ein „Aber natürlich" von sich. Jetzt betrachten wir sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Nur Cezara scheint es so zu gehen, wie Assia.

Linus ist der erste, der wieder ein Wort findet, während der Seemann keine Miene verzieht, nur sein Blick wandert zwischen uns hin und her, als würde er uns nach seinen Menschenkenntnissen einordnen. Mit einem Danke kann die Türkishaarige wohl nicht rechnen. Mein bester Freund beugt sich zu Assia und zischt ihr etwas zu, dass lauter ist, als er sicher wollte. „Bist du irre? So fängt jeder verdammte Horrorfilm an!"

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