Kapitel 56

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Wie überlebt man den letzten Schultag? Von Ratgebern war ich noch nie sonderlich überzeugt, aber dieser würde auf deutliche Nachfrage stoßen. Die einen sind schon in den Ferien und lassen diesen Tag nur an sich vorbei ziehen, andere wiederum nutzen die Zeit, um mit wärmeren Blicken auf diesen Ort zu schauen. Es ist, als würden sich die Menschen zu einem Kampf rüsten. Sie wissen, dass das die letzte Woche Ruhe sein wird, bevor sie sich auf die wichtigsten Prüfungen, die A-Levels, vorbereiten müssen, um in dem Haufen an Wissen nicht unterzugehen. Es sind die letzten Herbstferien für uns, das letzte Mal durchatmen, bevor es richtig los geht. Die Zeit bis zu den Herbstferien ist meistens die längste Schulperiode im ganzen Jahr und diese haben wir hinter uns. Manchmal offenbart diese Woche die letzten warmen Tage, bevor die triste Winterzeit anfängt, manchmal gibt sie einen Vorgeschmack auf die Regenzeit, die uns erwartet.

Egal was diese Ferien mit sich bringen, von Freude kann ich nicht sprechen. An den vergangenen Ereignissen knabbere ich noch, sehe den Himmel vor lauter Wolken nicht, aber dem gebe ich mich hin. Irgendwann wird es schon noch besser werden und wenn es heute nicht so weit ist und morgen nicht, dann ist es vielleicht übermorgen. Und so lange kann ich mich auch noch darin suhlen. So metaphorisch das auch klingen mag, aber alles endet so, wie es beginnt.

Ich allein mit mir, an einem Morgen, der die Zeit verschlingt. Da Frühstück generell überbewertet wird und die es in den Serien ja auch schaffen, trotz gedeckter Tafel nur mit einem Apfel zu verschwinden, haste ich am Tisch vorbei. Da wir keine Hollywood-Äpfel zuhause haben, schnappe ich mir eine Banane und stopfe sie in meinen Beutel, der heute als Schultasche dient. Mein Rucksack scheint sich seit gestern Abend vor mir zu verstecken, weil er mich nicht mehr aushält, aber das kann ich ihm nicht übel nehmen.

Die Tube rast in einem Affenzahn an mir vorbei. Wäre sie nicht rein mechanisch, würde sie mich wahrscheinlich dabei angrinsen, schadenfroh wie sie so vorbei dampft. Zum Dank ist die nächste zum Bersten voll mit Menschen... Nun ja, ich hasse Menschen. Das wird mir wieder bewiesen, als Mister Wi mein Fast-zu-spät-kommen euphorisch kommentiert und nicht mehr locker lässt.

„Kommen Sie, Mister Wilson, noch zwanzig Sekunden! Federtasche und Block reichen, oh es wird knapp! Eine Sekunde, ja! Darf ich Ihnen gratulieren? Sie haben sich vor einem Eintrag gerettet." Alle Blicke liegen auf mir, während Wi seine Show abzieht. Das geht mir aber so am Allerwertesten vorbei, dass ich, anstatt einzusteigen, einfach meinen Beutel auskippe und mich mit meiner Jacke neben Assia auf den Stuhl werfe. Soll er doch seine Reden schwingen, Hauptsache er lässt mich danach in Frieden.

Meinen Blick halte ich starr bei Assia oder Mister Wi, ehe er zu den beiden Jungs rutschen kann. Um August tut es mir leid, weil er diese Art von Abweisung nicht verdient, aber gerade geht meine emotionale Standhaftigkeit vor. Das Leben möchte es mir aber schwer machen.

„Was ist mit Ihnen, Shroeder? Was glauben Sie, beschäftigt uns heute?" Nicht hinschauen, nicht hinschauen. Von Julius höre ich keine Antwort, aber August schaltet sich leise mit ein, wobei ich nicht glaube, dass seine Worte für andere bestimmt sind. „So langsam ist das nicht mehr lustig. Leg deinen Grummel mal beiseite und werde wieder der Alte." Ein Schnauben wird hinterhergeschoben, wobei ich nicht weiß, ob es von August kommt.

„Nun, Ihnen fällt sicher ein, wie Sie uns die letzte Stunde quälen können. Da Sie aber heute besonders breit grinsen, tippe ich auf ein Spiel. Lassen Sie mich raten, es hat einen Haken?" Alle Mantras sind vergessen und mein Kopf schnellt zu Julius. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal dieses schiefe Grinsen auf seinen Lippen gesehen habe. Ein Flattern erhebt sich in meinem Bauch, aber ich kann nichts dagegen tun. Seine Gesichtszüge sind mit einem Mal nicht mehr kantig oder steinern, nein, er strahlt förmlich. Gott, wie habe ich das vermisst. Sogar Mister Wi scheint die Veränderung aufzufallen. Er übergeht die Frechheit und erklärt uns kurz darauf die Spielregeln seiner Stadt-Land-Fluss Variante.

Wir spielen nur zwei Runden, mehr würden wir wohl nie schaffen. Gut, bei fünfundzwanzig Kategorien ist das auch kein Wunder und wenn man sich diese erst anschaut... fällt auf, wieso unser Lehrer auch gewinnt. DichterFremdwörtergrammatikalische BegriffeKlassiker der Literaturgeschichte (Nein, Harry Potter zählt nicht) und vieles mehr.

Assia und ich kommen nicht mal ansatzweise an das Siegespodest heran, aber sogar mir entlockt es ein Grinsen. Während ich fast so laut schreie, dass der ganze Kurs meine Lösungen verstehen kann, schreibt meine beste Freundin nur Dinge auf, die kein Schwein kennt. Erst als Mister Wi mit seinem Handy nachschaut, entpuppt sich Assia als überzeugende Lügnerin. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat sie unserem Lehrer die spektakulärsten Flüsse beschrieben und ihn so gewissenhaft an der Nase herumgeführt, dass er ihr am Ende jedes „Fremdwort" abgekauft hat.

Unsere anderen beiden Freunde übertrumpfen dabei jeden mit lustigen Lösungen, die alles andere als richtig sind. Bei jeder Runde kann man mit Lachern rechnen, wobei August eine Runde nur in Reimen sprechen durfte, weil Julius ihn ohne sein Mitwissen als Dichter bezeichnet hat, als nach dem Buchstaben A gefragt wurde. Dass Vornamen nicht zählen, hat dabei eh niemanden gekümmert.

Mir persönlich ist das zu leicht. Wegen eines Kommentares wird der Blondkopf ganz sicher nicht wieder der funkensprühende Junge sein, der jedem zum Lächeln bringen kann. Ich kann einfach nicht glauben, dass das gereicht hat. Aber wieso sollte man Hintergründe erfragen, wenn man sich auch einfach daran erfreuen kann? In erster Linie versuche ich die Chance zu nutzen und mich in dem Spiel fallen zu lassen. Und seien wir mal ehrlich, gegen das Glücksgefühl in meinem Inneren kann ich eh nichts tun. Ich genieße diese Stunde einfach mit Vorsicht. Vielleicht ist er unter uns ja wieder ein Arsch.

Erst als das Spiel vorbei ist und Mister Wi seine Ferienansprache hält, ebbt das Gefühl wieder richtig atmen zu können ab und die vergangenen Tage holen mich ein. Um nicht wieder in Selbstzweifel zu versinken, verschwinde ich mit bittenden Worten auf dem Klo und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Heute ist der letzte Schultag, man! Ich muss mich nur zusammenreißen, dann ist er vorbei und ich kann mit Assia alles mal in Ruhe besprechen und mich vielleicht ein Stück weit von meinen Gedanken befreien. Vielleicht ist heute ja ein guter Tag, um glücklich zu sein.

Da es noch gute fünf Minuten sind bis der Unterricht endet, beschließe ich meine Blase zu befreien. Kann ja nicht schaden. Ich lasse mir Zeit und zwinge mich, meine hochgezogenen Schultern einmal fallen zu lassen. Die Last abzustellen erlaube ich mir nur, wenn ich allein bin. Lange bleibt das aber nicht so.

„Ich hab dich vermisst, alter!" Augusts quietschende Stimme würde ich überall erkennen. Gerade möchte ich aus der Kabine kommen, um mir die Hände zu waschen, aber als ich die Hand an das Drehschloss lege, erstarre ich in der Bewegung.

„Noch ist ja nichts passiert. Aber weiter kann das nicht so gehen. Wie schwer glaubst du, wird das?"

Der Junge mit den braunen Augen ist auch hier. Der erste Impuls der Flucht wird mit dem schuldigen Ton in seiner Stimme erstickt. Vielleicht ist es falsch, dass ich hierbleibe und mich tonlos gegen die Tür presse. Es ist sogar wahrscheinlich, dass niemand Lauschen gutheißen würde. In Büchern erfahren die Figuren dann entweder, dass eine geheime Intrige geplant wird oder dass sie adoptiert sind, aber gerade möchte ich einfach nur der Melodie seiner Stimme lauschen, die endlich nicht mehr nur aus dumpfen Schlägen besteht.

„Und wie du dich anstrengen werden musst." „August, wie soll ich mich bloß entschuldigen? Ob Worte reichen, um das wieder gut zu machen?"

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