Kapitel 38

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Schwarz. Alles ist schwarz. In jeder möglichen Nuance wabert es umher. Wie Wasser, das von Strömungen mitgerissen wird oder Wolken, die vom Wind geformt werden, wabert es. Wie ein kleiner Faden, der immer wieder entgleitet, gesellt sich ab und zu eine Stimme dazu. Erst ist es eine leise, stockende Stimme. „Ich pass auf dich auf. Es wird alles gut." Diese Stimme ist kaum greifbar, viel zu viele Emotionen schwingen mit ihr mit. Dann gräbt sich eine zweite Stimme ihren Weg durch die Dunkelheit, aber von dem Spiel der beiden Instrumente schwingt das Schwarz immer schneller, bis es die Stimmen verdrängt. Die zweite Stimme, die nichts als Liebe in sich trägt, tätschelt meine Stirn, wischt mir Haare aus dem Gesicht. Die Worte ergeben in der Dunkelheit keinen Sinn, aber der Ton reicht aus, um das Wabern zu stoppen. „Wir bekommen das wieder hin. Ruh dich aus, Engel." Das Schwarz deckt sich über mich wie eine warme Decke, die mich beschützt und die Kälte draußen hält.

Weiß. Ekelhaftes, kaltes Weiß. Es ist Licht, das sich unbarmherzig durch meinen Schädel operiert. Langsam öffne ich die Augen, um das Licht zu verarbeiten. Sie fallen wieder zu, so schwer wie sie sind. „Schatz, da bist du ja wieder. Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt." An meiner Seite erkenne ich eine Silhouette. Ich möchte meiner Mum antworten, aber mein Mund fühlt sich an wie zugenäht. „Trink etwas Wasser." Wie befohlen beuge ich mich in Zeitlupe nach vorn und setze das Glas an die Lippen, das mir in die Hand gedrückt wurde. Wie Lebenselixier rinnt es wohlig durch meine Kehle und befeuchtet meine Lippen, sodass sich das klebrige Zeug daran löst. Der eiserne Geschmack verrät mir, dass es Blut war.

Mit einem stützenden Paar Arme richte ich mich auf und lasse mich gegen die Bettlehne fallen. Ein überraschter Laut entflieht meiner Kehle und ich stoppe in der Bewegung. Scheiße tut das weh. Mit den Bewegungen kommt auch der Schmerz zurück, das leise Pulsieren in meiner rechten Gesichtshälfte und den Rippen. Erst als ich sicher bin, dass nicht noch mehr böse Überraschungen auf mich warten, lehne ich mich zurück. Mein Rücken wird durch das federnde Kissen weitestgehend geschont. „Geht es?" Ich nicke stumm. Meine Mum sitzt an der Bettseite, sie sieht furchtbar aus. Als hätte sie die Nacht bei mir verbracht, liegen tiefe Schatten unter ihren Augen und ihre Miene zeichnet eine Besorgtheit ab, die trotz der Freude über mein Erwachen nicht verschwindet. Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie. Mum lächelt schwach.

„Was ist passiert, Paul? Ich habe mir unglaublich Sorgen gemacht. Wer hat dich so zugerichtet?" Den dicken Kloß in meinem Hals schlucke ich angestrengt runter, suche nach Worten. Meine Mum bemerkt meine Schwierigkeiten und fängt nochmal von vorn an. „Wo tut es überall weh? Dein Gesicht sehe ich selbst, aber das wird nicht das Einzige sein." Dankbar über die verschobene Erklärung ziehe ich mein Shirt hoch; ich trage noch die Sachen von gestern. Ich spüre den Bluterguss noch bevor ich ihn sehe. Das Ziehen in meinem Rücken und das pochende Gesicht hält nicht mal ansatzweise mit dem Hämmern gegen meine Brust mit. Jeder Atemstoß erinnert mich an den Fleck durch Konrads Faust. Noch nicht vollausgebildet leuchtet er in einem dunklen Rot. Die Sorgenfalten in dem Gesicht meiner Mum werden tiefer. „Ansonsten nur noch die Wirbelsäule, aber nicht ganz so doll." Meine Stimme ist von der Regeneration meines Körpers noch ganz rau.

„Mehr nicht? Gott sei Dank." Sie schließt mich, bedacht keine der Stellen zu berühren, in die Arme. „Ich hole dir jetzt etwas zum Kühlen, für dein Gesicht und die Rippen. Dein Gesicht habe ich heute Nacht immer Mal wieder gekühlt, die Schwellung sollte daher nicht ganz so sehr weh tun. Ich bin gleich wieder da." Meine Mum erhebt sich mit knackenden Gelenken, die von einer ungemütlichen Schlafposition berichten. Kaum ist sie aus dem Zimmer verschwunden, prasseln die Geschehnisse von gestern Abend auf mich ein.

Mum kommt auf leisen Sohlen nach einigen Minuten wieder, ausgestattet mit einem feuchten Lappen und verpackten Kühlakkus. Nach einer kurzen Anweisung, ich solle nie länger als fünfzehn Minuten die Stellen bearbeiten, kommt sie wieder an mein Bett und reicht mir den Lappen, mit dem ich meinen Mund von dem getrockneten Blut befreie. Eine innerliche Anspannung nimmt mich ein, denn ich muss ihr so oder so erzählen, was passiert ist. Wieso also nicht jetzt?

„Nach dem Training war ich der Letzte und wurde von Typen abgefangen, die mich schon die ganzen letzten Wochen anstacheln. Eigentlich habe ich das immer ignoriert, aber da ist irgendetwas in mir durchgegangen und ich habe mich auf die Idioten gestürzt. Gott, war das dumm." Mitfühlend holt sich meine Mum das Versprechen ab, das nächste Mal sofort mit ihr zu reden, nicht erst, wenn es zu spät ist. Böse ist sie mir nicht, jedenfalls zeigt sie es nicht. Ihre verzweifelte Miene macht mir zu schaffen, denn ich hätte es besser machen müssen. Sie wirft mir nichts vor, zeigt sich dabei mehr als verständnisvoll, aber das macht es nicht einfacher. Sie spricht mich heilig, dabei könnte ich mich selbst verfluchen. Trotzdem bleibt sie den ganzen Tag bei mir und erst einmal belassen wir es bei dieser Erklärung. Nach einer Stärkung wird der Wunsch nach Schlaf wieder stärker und ich lege mich auf Anweisung von Mum hin.

Als ich das nächste Mal aufwache ist sie nicht bei mir. Ein Blick auf die Uhr später, stehe ich mit wackligen Beinen auf. Es ist schon halb sechs. Meine Mum steht in der Küche, es duftet nach einer Hühnersuppe. Sie ist so niedlich, weil sie tut, als wäre ich krank. Meine schweren Schritte verraten mich und sie dreht sich zu mir. Mit einem Finger deutet Mum auf einen Stuhl und ich setze mich. „Du erholst dich, sehr gut! Ein netter Junge in deinem Alter war hier, als du wie tot geschlafen hast. Er wollte zu dir, hat sich dann aber mit mir unterhalten. Er hat sich als Julius vorgestellt. Du hast ihn gar nicht erwähnt." Ein Hauch Rosa ziert meine Wangen, jedenfalls fühlt es sich so an, und ich schaue auf meine gerade unfassbar interessanten Finger, die vor mir auf dem Tisch liegen. Julius' Worte, die er mir hinterhergerufen hat, schießen mir durch den Kopf. „Was hast du dir dabei gedacht?" Wieso zum Teufel war er hier? Hat es ihm nicht gereicht mir zu zeigen, dass er zu Konrad hält? So langsam verstehe ich gar nichts mehr.

„Ja, Julius ist ein Freund von mir. Hat er sonst noch irgendetwas gesagt?" Nervös fahre ich mir durch die Haare. Wollte er sich entschuldigen? Schließlich hat er nicht versucht, mich im Schlaf zu ermorden. Meine Mum wendet sich von dem Topf ab und zieht sich einen Stuhl heran. „Er war kurz in deinem Zimmer, wollte sich vergewissern, dass es dir gut geht. War er dabei, also war er einer von den Jungs, die...?" Schnell unterbreche ich ihren Gedankengang. „Nein! Naja, ich weiß nicht so recht. Er hat nicht mit gemacht, glaube ich. Wir sind Freunde, er hat eingegriffen, es ging alles ziemlich schnell. Keine Ahnung, ehrlich gesagt." Mit der Erklärung zufrieden geht Mum wieder an den Herd und nimmt den Topf davon, um den Inhalt in zwei Schüsseln zu verteilen. Die dampfende Suppe lassen wir aus Sicherheitsgründen noch unberührt. „Ein Freund also... Er sah ziemlich besorgt aus, hat sich von mir nicht beruhigen lassen, sondern musste dich erst sehen. Da war sogar Assia ruhiger."

Assia war hier? Mein fragender Gesichtsausdruck bewegt meine Mum dazu, sich zu erklären. Assia habe mich zu sich genommen und grob durchgecheckt. Oh Gott, für Assias Familie war das sicher ein Schock, so wie ich aussehe. Meine Mum muss mich dort abgeholt haben. Ich muss ihr unbedingt Bescheid sagen, dass es mir gut geht und Danke sagen. „Woher kennt ihr beide euch?" Noch in meinen Gedanken hängend, muss ich nachfragen, was sie meint. „Assia und ich?" „Nein, Julius und du. Der Kerl sieht nett aus. Sehr nett. Als Mädchen hätte ich ihn nicht von der Bettkante geschubst." Ich verschlucke mich beinahe, was zu einer Sauerei geführt hätte, da ich dabei war, meine Suppe durch Pusten abzukühlen.

„Mum! Oh Gott, er hat eine Freundin!" Den Gedanken, dass meine Mum und er... Den verdränge ich schnell, wobei ich ihr den erst besten Grund erkläre. Dass ich ihr zustimme und ihn ganz sicher nicht wegstoßen würde, lasse ich unausgesprochen. Entschuldigend hebt sie die Arme und kichert. Erst als unsere Schüsseln leer sind, hören wir auf mit dem Albern. Über Jungs zu quatschen fiel mir früher sehr schwer, gerade mit meiner Mum, aber sie gibt mir immer das Gefühl, es jederzeit tun zu können. Schließlich schreibe ich Assia noch, wie dankbar ich ihr sei und dass es mir gut ginge, weitere Erklärungen würden folgen. Nach Absprache mit meiner Mutter werde ich auch morgen noch zuhause bleiben, auf nichts anderes hat sie bestanden, egal wie sehr ich mich dagegen wehrte. Somit würde sich mir morgen noch nicht erklären, was da genau vor sich ging und ob ich gegen irgendeinen Lampenmast gelaufen bin, der meine Erinnerungen vermischt hat.

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