Kapitel 75

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Foltergeräusche wecken mich. Ein rhythmisches Hämmern hallt in dem Raum wider und zerrt meinen Kopf aus dem Schlaf. Mit einem Ächzten auf den Lippen, öffne ich die Augen und starre auf die gegenüberliegende Wand. Ich versuche das Geräusch zu verorten und wende mich nach rechts, wo neben mir der Regen gegen das schräge Fenster prasselt. Ich sag ja, mörderische Geräusche. Bevor mir auch nur eine Erkenntnis klar wird, weiß ich, was ich nicht weiß. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich habe keine Ahnung, wieso ich hier bin. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt Klamotten trage.

„Fuck." Ich kneife die Augen zusammen, zähle innerlich bis drei und hebe dann die Decke hoch. Wenigstens habe ich meine Boxershorts an. Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Die andere Bettseite sieht ziemlich zerwühlt aus, aber im Schlaf traue ich mir das auch zu und der fremde Geruch, der an den Kissen klebt, schreibe ich dem Waschmittel zu.

Wie der Regen prasseln auch die Erinnerungen von gestern auf mich ein. Ich lag in einem Bällebad. Da war so ein Typ, der so heißt wie ich. August wollte was von mir. Julius' Party!

Aber wo bin ich jetzt? Ich bete in eine unbestimmte Richtung, dass ich nicht mit irgendeinem Typen mitgegangen bin, um mich dann aufreißen zu lassen. Oder selbst jemanden aufgerissen habe. Oh Gott. „Hallo?", meine eigene Stimme wummert durch meinen Schädel. Hallo, Kater. Und den Filmriss gibt es gratis dazu.

Auf meine unüberlegte Frage kommt keine Antwort. Wenigstens weiß ich so, dass vor der Tür kein Mörder auf mich wartet. Solle ich lautlos verschwinden? Während mir ziellose Fragen durch den Kopf schießen, was das durchdringende Dröhnen nicht besser macht, öffnet sich die Tür ein Stück breit und ich höre tapsende Geräusche, kann aber niemanden sehen. Scheint ja ein ziemlich kleiner One-Night-Stand gewesen zu sein.

Etwas Schweres und Haariges springt auf das Bett und steckt mir eine Zunge in den Mund. „Ih, Lotte!" Ich drücke das Monsterchen von mir weg und springe aus dem Bett. Lotte! „Hey, meine Süße, was machst du denn hier?"

Eine Antwort von dem Hund erwarte ich nicht, aber sie folgt mir mit wedelndem Schweif, als ich mich zur Tür drehe und auf Zehenspitzen durch sie schlüpfe. Ich hoffe einfach, dass ich niemanden auf dem Weg begegne und im Bad einen passablen Plan fassen werde. Wenigstens kenne ich mir hier aus.

Das Bad liegt auf der gleichen Etage, sodass ich nur die Tür, die keine drei Zimmer entfernt liegt, passieren muss. Da sich aber auch hier drin die Umstände nicht ändern und ich auch nicht plötzlich zuhause bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als unter die Dusche zu schlüpfen.

Als ich endlich das viel zu laute Wasser ausstelle und in ein Handtuch umhüllt vor dem großen Spiegel stehe, realisiere ich richtig, was hier gerade los ist. Die weißen Strähnen, die auf meinem Kopf sitzen, machen das nicht besser. Mit meinen Händen und dem Waschbecken, versuche ich die Schminke aus meinen Haaren zu bekommen, was fast gut klappt. Das lässt die dunklen Ringe unter den Augen und die helle Haut auch nicht verschwinden, aber wenigstens weiß ich jetzt, dass es nichts bringt einfach abzuhauen. „Komm, wir holen mir schnell was zum Anziehen", flüstere ich der Labradordame neben mir zu.

Meine eigenen Klamotten lagen nicht in dem Zimmer, das vermutlich das Gästezimmer darstellt und ansonsten bleibt mir nur noch Julius' Schrank. Eine Welle aus Erleichterung erreicht mich, als ich sein Zimmer betrete und er nicht da ist, sodass ich mir eine helle Jeans und einen schwarzen Pulli schnappen kann. Die Hose muss ich zwar mehrfach umkrempeln und der Pullover hat eher mich an, als ich ihn, aber wenigstens sind die Sachen angenehm zu tragen.

Gewappnet genug, um die Treppe runter zu schleichen, tapse ich in das Wohnzimmer, das, wer hätte es gedacht, auch leer ist. Gerade spähe ich in die Küche, als hinter mir die Haustür aufgeht, mich ein kühler Luftzug umspielt und eine männliche Stimme laut „Guten Morgen" ruft. Okay, vielleicht ist das auch die Lautstärke eines Normalsterblichen, aber der Alkohol von letzter Nacht malträtiert mein Gehör noch immer.

Ich drehe mich zu dem Hausbewohner und verdecke die Ohren mit meinen Händen. „Hi." Der Blondschopf, der in meinem Gehirn auf seltsame Weise als Vampir vorkommt, hat eine braune Papiertüte in der Hand und steckt in einer Daunenjacke. Natürlich sieht er nicht so beschissen aus wie ich, ganz im Gegenteil, er strahlt mich sogar an. Prüfend drehe ich mich nochmal zum Wohnzimmer, aber es ist wirklich das Haus der Shroeders. Bin ich in einer Parallelwelt gelandet, in der Julius lächeln kann?

„Dachte ich mir doch, dass du mit dem größten Kater der Welt aufwachst. Ich habe eben Tacos geholt, die wirken wie ein Heilmittel dagegen, glaub mir." Zur Verdeutlichung hebt er die Tüte hoch, „Möchtest du auch Pancakes?" Matschig in der Birne und überfordert, schüttle ich langsam den Kopf und setze mich an den langen Essenstisch, weil mir Stehen noch nie so schwer vorkam.

Möglichst leise setzt Julius die Tüte vor mir ab, holt zwei Teller und packt die Tacos darauf. Ob das wirklich hilft? Aber gegen eine richtige Mahlzeit habe ich nichts, also greife ich nach der gefüllten Tortilla. Mit jedem Bissen wird mein Magen weniger aufdringlich und mein Verstand klarer.

„So, jetzt aber. Guten Morgen", gebe ich unter den letzten Bissen von mir, während mein Kopf jetzt erst wahrnimmt, dass ich nicht allein bin. „Da waren wir eben schon, aber vielen Dank," gibt mein Gegenüber glucksend von sich. Wieder kann ich ihn nur anstarren. Und ohne Hintergedanken oder Schwärmerei fällt mir auf, wie gut er heute aussieht. Sein Gesicht hat Farbe bekommen und seine Mundwinkel hängen nicht mehr so trüb, sondern zeigen Mimik. Sogar seine Haare kommen mir strahlender vor, aber das kann auch dem Vormittagslicht verschuldet sein. Das kann nur an zwei Gründen liegen. Entweder er ist Julius' verschwiegener Zwillingsbruder oder ich habe die Nacht etwas so Peinliches gemacht, dass ich damit sogar Julius erfreuen konnte.

„Wie schlimm war ich?" Ich wappne mich für das Schlimmste. Julius feuert meine Befürchtungen an, indem er seine Hände betrachtet und vor sich hin grinst. Ich habe also mindestens auf irgendeinem Tisch getanzt, ob ich nackt war, kann ich aus dieser Geste aber nicht herausfiltern. „Du hast nichts gemacht. Du warst alles in allem ein sehr freundlicher Betrunkener, hast nicht mal in eine Ecke gekotzt. Kannst stolz auf dich sein. Gut, du wolltest im Bällebad übernachten, aber da konnte ich dich rausfischen." Er zwinkert mir verschwörerisch zu und greift nach meinem Teller, um ihn wegzuräumen.

Während er das Geschirr zur Spüle bringt, bilde ich mir sogar einen leichten Hüftschwung ein, als er läuft. Japp, nie wieder Alkohol. „Ich habe nicht getanzt?" „Doch, schon, aber gar nicht mal so schlecht, dafür, dass du so voll warst. Du hattest mehr Taktgefühl, als ich es jemals haben werde." „Und ich habe mich nicht dabei filmen lassen?" Julius' Augen funkeln belustigt, aber an dieser Stelle winkt er nur ab. „Nein, keine Sorge, zu dem Zeitpunkt war die Lapdance-Nummer von Anika deutlich beliebter." Schockiert reiße ich die Augen auf. Ich kann mir vage vorstellen, was da los gewesen ist. „Und jetzt die wichtigste Frage: Habe ich mit einem weiblichen Wesen rumgeknutscht?"

Um Julius' Selbstbeherrschung ist es nun geschehen und er bricht endgültig in Gelächter aus. „Nein!" Das Geräusch ist so ungewöhnlich für ihn, dass ich es unterlasse ihn auf seine Lautstärke hinzuweisen und ihm einfach zuhöre. „Glaubst du mir jetzt, dass du nichts verbrochen hast?" Diesmal nicke ich nur. „Dann hör zu, es ist kurz nach halb zwölf und wenn du noch pünktlich im Laden sein möchtest, müssten wir gleich los."

Egal was mir Julius über gestern erzählt hat, nichts könnte mich mehr schocken als das. Er weiß noch wann ich sonntags arbeite?! Jupp, das ist eindeutig Helios, Julius' Zwillingsbruder. „Das ist lieb, aber", wie war das mit dem ignorieren? Es ist vielleicht der schlechteste Zeitpunkt, darauf zu kommen, aber ich lasse mich nicht von einem Lachen und einem Frühstück einlullen! „Nein. Ich gehe nicht davon aus, dass die Kunden gerade heute lernen über den Boden zu schweben und allesamt stumm werden."

Der ausgewechselte Junge vor mir beginnt zu strahlen und der Ausdruck in seinen Augen macht Lottie Konkurrenz. „Dann bleib doch hier." Ich ziehe eine Augenbraue hoch und suche sofort nach einer Ausrede. „Nein ernsthaft, bleib hier. Wir können den ganzen Tag Filme schauen, wenn du möchtest auch ohne Ton und mit Untertitel. Ich bestelle uns nachher etwas von Vietnamesen, übrigens tolles nach-Kater-Essen und abends fahre ich dich dann nach Hause, dann musst du nicht die Tube nehmen."

Scheiß auf die Vorsetze. „Okay." Und mit dieser Antworte schenkt mir Julius einen Gesichtsausdruck, den ich für lange Zeit in meinem Gedächtnis bewahren werde.

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