Es liegt fast im Bereich des Unmöglichen, dem besten Freund etwas vorzuenthalten, aber dank meiner jetzigen Lage versteht Linus, dass ich nicht unbedingt über den Jungen schwärmen möchte, der in meinem Inneren nur darauf wartet, alles zu verwüsten. Trotz jeglicher Vorbehalte quetscht Linus aber trotzdem Kleinigkeiten aus mir heraus, ob es die Goldtöne sind, in denen seine Haare unter dem Sonnenlicht schimmern oder die Wärme in seinen Schokoaugen, wenn er von seiner kleinen Schwester erzählt.
„Und du bist sicher, dass es derselbe Typ ist, der auch mit Konrad abhängt? Wenn du das so erzählst, dann klingt es ja fast so, als wäre er der beste feste Freund, den man sich nur vorstellen kann." Das laute Öffnen der Tür befreit mich von einer Antwort, da Linus mir nur beweist, wie schwerwiegend der Fehler war, ihn mir durch die Lappen gehen zu lassen. Wäre er nicht so ein Idiot, würden wir wahrscheinlich Hand in Hand über einen Regenbogen reiten, auf einem schneeweißen Pferd versteht sich.
Mit einem Rascheln legen die beiden Mädchen ihre Tüten ab und Cezara zieht Linus sofort von der Couch, um ihm die neuen Stücke zu zeigen. Währenddessen krame ich mein Handy aus der Hosentasche, um Assia möglichst unauffällig von den Neuigkeiten zu berichten.
Ich: Hab es Linus endlich erzählt. Also alles! O.O Er hat 1a reagiert. -P
Meine beste Freundin schaut nach den „Pling" auf ihren Display, schaut dann wieder mich an und tippt auf ihrem Handy herum. Auch ohne die Antwort zu lesen, weiß ich, wie begeistert sie ist.
Assia: Meega! Stolze Mutti!
Ich lege mein Handy auf den Beistelltisch der Couch und hole mir bei ihr meine wohlverdiente Umarmung ab. Als ich mein Gesicht in ihren duftenden Haaren vergrabe und die Augen schließe, merke ich, wie gut es mir getan hat, die Wahrheit zu sagen. Die Last auf meinen Schultern verliert von Tag zu Tag mehrere Zentner.
„Als wir zurückgefahren sind, haben wir bemerkt, wie mild es draußen doch ist und in der Kammer müssten noch drei oder vier Schlafsäcke liegen. Was haltet ihr also davon, wenn wir..." Zu mehr kommt Assia leider nicht, weil Linus aufgesprungen ist und sie gepackt hat. Halb in der Leere baumelnd, schnappt sie erschrocken nach Luft. Cezara und ich blicken uns lachend an; nur wir beide wissen, wie sehr Linus solche Events liebt, was er aber unter den Jungs nie zugeben würde.
„Wann habt ihr euch das letzte Mal die Sterne angeschaut?", fragt Linus, der sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckt. Das leise Quietschen der Hollywoodschaukel verleiht der Nacht einen Ton und formt sich mit den leisen Geräuschen aus der Umgebung zu einer Melodie. Die Sterne leuchten über unseren Köpfen, als würden sie der Sonne nacheifern wollen. Assia wendet den Kopf zu meinem besten Freund und antwortet: „Das letzte Mal in die Sterne geschaut... habe ich glaube ich, als ich high war." Alle Köpfe recken sich in ihre Richtung, aber ihr Gesicht deutet auf keinerlei Scherz hin.
„Wirklich?", fragt Cezara ungläubig. Jetzt verschwindet Assias ernste Miene und sie beginnt zu lachen. „Das war ein Scherz. Ich war noch nie high und habe das auch nicht vor." „Du hast ja einen seltsamen Humor." Assia streckt mir die Zunge entgegen, kuschelt sich dann aber nur noch tiefer in den Stoff des provisorischen Unterschlupfes.
„Lasst uns daraus doch ein Spiel machen", schlägt Cezara vor, die scheinbar noch nicht ansatzweise müde ist. „Sowas wie Wahrheit oder Pflicht... Nur ohne Pflicht?" „Genau." Oh nein, nicht sowas schon wieder. Ich versuche meine nicht so ernst gemeinten Zweifel zu formulieren. „Wisst ihr... das letzte Mal, als ich sowas gespielt habe, ging das deutlich in die Hose."
Sofort habe ich alle Ohren bei mir und eine Ruhe tritt ein, die nach einer Geschichte verlangt. „Damals waren wir", ich tausche einen kurzen Seitenblick mit Linus aus, „auf der Klassenfahrt in der zehnten Klasse und wir sind mit zwei Lehrern unterwegs gewesen. Wir sind nach Rom geflogen, weil wir seit der siebten Klasse Latein als Fremdsprache hatten und Latein-Amerika leider zu weit weg liegt. Siehst du Assia, sowas ist ein Scherz. Auf jeden Fall haben wir dort abends Wahrheit oder Pflicht gespielt und als es ziemlich spät und ich gerade bei einer Pflichtaufgabe war, stürzte Mister Ryker in den Raum, während ich über dem Boden kniete und mit der Zunge noch am Bodenbelag klebte. Das war sooo peinlich, aber das Gesicht war es wert."
Ich erwarte Lacher, aber die drei schauen mich nur einige Sekunde entgeistert an, ehe Cezara die erste ist, die laut loslacht. Da Assia und ich immer noch Geschichte bei ihm haben, ist es für sie bestimmt noch bildlicher. Unser aller Gelächter hallt zwischen den nahen Bäumen wider und wir kriegen uns gar nicht mehr ein, was wohl der späten Stunde zu verschulden ist.
„Okay, jetzt lasst uns aber anfangen", verlangt Linus. Er hat sich inzwischen so weit zu Cezara gezogen, dass man fast glauben könnte, sie stecken in einem Schlafsack, woraufhin sich Cezara an seinen Oberkörper schmiegt. Linus' Grinsen ähnelt dabei dem eines genießenden Katers und ich habe ihn lange nicht mehr so glücklich erlebt. Wie gern würde ich mich auch...
„Assia, ich habe eine Frage!" Um nicht an das zu denken, was wahrscheinlich als nächstes in meinen Kopf gekommen wäre, spreche ich die ersten Wörter aus, die mir einfallen. Toll, was soll ich sie denn jetzt Fragen? Ob sie ihre Haare grün gefärbt hat, weil sie Bäume mag? Oder ob sie so viel reden kann, weil sie ihre Kiefermuskeln trainiert? „Wer war eigentlich deine erste Liebe?" Das passt doch ganz gut zu dem Spiel, oder?
Verwundert schaut sie mich kurz an, als glaube sie nicht, dass ich ihr so in den Rücken falle, aber sie scheint trotz gespielter Miene entspannt zu sein. „Das ist so peinlich. Aber okay, wenn du es wissen möchtest... Erinnerst du dich an den Typen, der im Supermarkt arbeitet?" Mir klappt die Kinnlade herunter. „Meinst du den Typ, der in einem Punk-Rock Musikvideo mitmachen könnte?" Trotz der spärlichen Beleuchtung merke ich an ihrer Art, wie sie rot wird. „Das ist Tommy und nein, diesmal ist das kein schlechter Scherz. Und er ist kein Punk-Rocker. Ich glaube, dass ich damals zwölf oder dreizehn war und damals hat er schon in den Ferien im Supermarkt gearbeitet und in diesem Jahr waren wir besonders oft hier. Ich glaube ich war bei jedem Einkauf dabei, nur um ihn kurz zu sehen. Früher sah er auch nicht so schwarz und stachelig aus, sondern immer mit einem netten Kompliment oder einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Er hat damals sogar den alten Damen die Einkäufe ins Auto geräumt."
Ich komme gar nicht mehr aus den Fragen heraus, weil das nun wirklich nicht die Art von Typ ist, die ich mir bei Assia vorstellen könnte. Da ihr aber irgendwann das Fragenstellen auf die Nerven geht, lässt sie uns mit einem „Wartet!" allein und geht ins Haus. Keine Minute später kommt sie mit einem Karton wieder, der mir bekannt vorkommt. Es ist der, den ich in der Kammer fand, als ich nach irgendeiner Zutat gesucht habe. Sie öffnet den Deckel und kramt kurz darin, ehe wir uns über ein Bild strecken und alle „Aww" machen. Es zeigt einen kleinen Platz mit Buden aus Holz, an denen Schilder hängen, die Glühwein und Bratwurst verlauten lassen. Der Boden ist komplett mit Schnee bedeckt und die kleinen weißen Punkte lassen erahnen, dass es auch während des Fotografierens rieselte. An einer der Buden steht Assia, die deutlich jünger aussieht als jetzt, so mit braunen Haaren und durchblitzender Zahnspange. Sie streckt die Arme nach einem Stiel mit Weintrauben, die mit Schokolade überzogen sind, aus, den ein Junge hält. Er hat kaum Ähnlichkeit mit dem Mann von der Kasse, aber seine treuen Hundeaugen verraten ihn. Sein Oberkörper steckt in einem roten Weihnachtspulli, der trotz des Anschnitts durch den Tresen sehr selbstgestrickt aussieht. Der bärtige Mann im Hintergrund trägt den gleichen und die beiden wurden sicher von einer Oma liebevoll beschenkt.
„Warte, ist das...? Der Alte von dem Kanuverleih?" Linus reißt uns das Foto aus der Hand und hält es vor sein Gesicht. Assia stimmt ihm zu und verkündet, dass der Mann sein Vater ist. „Ich wusste, dass es da nicht mit rechten Dingen zu geht! Und ihr dachtet, ich wäre bescheuert, aber ich hatte nur den richtigen Riecher! Das ist alles nur eine Verschwörung, nicht war Assia? Oder wie auch immer du heißen magst..." Linus stemmt echauffiert die Arme in die Seiten. Cezara schlägt ihm aber nur die Hand gegen die Brust, sodass er zurück in den Schlafsack fällt. Für solche Momente liebe ich meinen Freund.
Aber er hat doch recht, oder nicht? Deshalb mag ich London so. Dort begegnet man sich einmal und wenn man Pech hat, dann noch ein zweites Mal, aber dann ist auch wieder gut. In einem Dorf ist jeder irgendwie verwandt oder kennt alle und jeder weiß sofort die Lebensgeschichte der anderen.
Linus und Cezara erzählen auch noch ein paar Geschichten, von denen mir manche von Linus sehr bekannt sind, aber nach diesem Schock brauchen wir alle ein wenig Zeit, um wieder sonderlich müde zu werden. Aber wie es nun mal so ist, geht dann alles ganz schnell sobald das letzte Wort gesagt wurde und wir schnarchen um die Wette. Da mir aber nicht sonderlich viel Schlaf gegönnt ist, wache ich irgendwann im Stockdunklen wieder auf, weil ich zwei Personen flüstern höre. Oder eher säuseln. Da mein Kopf noch im Schlaf ist, verstehe ich kein Wort, aber um diese Nachtzeit glaube ich, dass ich es sowieso nicht hören möchte. Mit einer Hand greife ich nach meinem Kissen und werfe es in die Richtung, aus der ich Linus' Nuscheln höre, gefolgt von einem dumpfen „Aua!". Mit einem raschelnden Geräusch landet es dann wieder auf meinem Schoß, aber wie erhofft ist es mit einem Mal wieder still und die Nacht nimmt mich in ihre Arme.
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Be My Cookie (boyxboy)
RomancePaul ist Captain einer Fußballmannschaft und versucht die zwölfte Klasse zu überleben. Trotz neuer Freunde, die ihn gegen alte Feinde unterstützen, macht ihm das gegnerische Team das Leben schwer. Obwohl sein Schwulsein nie ein Geheimnis war, bringt...