Kapitel 60

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Die ersten Risse kommen mit dem Auftauchen meiner Freundin. Endgültig zerbricht die Maske, als sich Assia in meine Arme wirft und mich dabei auf den Boden meines Flurs katapultiert. Drei Tage hat sie sich nicht gemeldet. Drei Tage voller Schuldgefühle, Ängste und Sorgen, rund um sie. Ich habe mir eingeredet es verdient zu haben, sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich neue Freunde suchen kann, aber da steht sie, eingepackt in einen dicken Mantel und – einem Koffer?

„Assia, es tut mir so" Sie lässt mich den ersten Satz nicht Mal aussprechen und umklammert mich nur noch mehr. „Alles vergeben und vergessen, solange du mir auch verzeihst." Ehe ich sie fragen kann, wovon zum Teufel sie da redet, taucht meine Mum über uns auf und grüßt Assia. Ihr Gesichtsausdruck zeigt keinerlei Überraschung, wobei ich mich immer noch fühle, wie überfahren und das liegt ganz sicher nicht an Assias Fliegengewicht.

Wir entknoten uns und mir fällt wieder ihr Koffer ins Auge, der präsent in dem schmalen Flur der Wohnung steht. Hat sie vor bei mir einzuziehen? Assia folgt meinem Blick und ihr Gesicht erhellt sich deutlich. Aus ihrer Manteltasche kramt sie etwas und streckt es empor. In ihrer Hand funkeln zwei Papierstreifen, die verdächtig nach Zugtickets aussehen. „Wa-?" Mum war zwischendurch verschwunden und taucht, beladen mit einer riesigen Reisetasche im Arm, wieder auf. So langsam verstehe ich diese Intrige. „Wir fahren in die Ferien!"

Der Bahnhof ist überfüllt von Menschen, die Familienmitgliedern hinterher winken oder rennend zum Zug hechten, dessen Türen sich schließen. Mittendrin stehen Assia und ich, wobei ich wenig Ahnung habe, was hier passiert. Als mir Mum die Tasche reichte und mich mit einem Kuss verabschiedete, ging es zur Bushaltestelle ein paar Minuten entfernt von mir und dann landeten wir hier. Assia möchte mir weder verraten wo es hin geht, noch wie lange wir dort sein werden.

Motiviert kann man mich nicht nennen, viel zu sehr vermisse ich mein Bett dafür, aber die Geste meiner Freundin rührt mich und erreicht sogar den verletzten Kern in meinem Inneren. Immer wieder wird mir bewusst, dass sie Wort gehalten hat und sich so um mich kümmert, wie es sonst niemand tun würde.

„Kannst du mir wenigstens sagen, wie lange wir fahren müssen?" Anstatt auf mich einzugehen streicht sich Assia eine Strähne aus dem Gesicht und zuckt nichtsahnend mit den Schultern. „Wie findest du eigentlich die Zugfarben? Also Gelb ist ja so was von überholt." Beleidigt gebe ich es auf zu fragen und gebe mich der Unwissenheit hin. Ich habe weder die Kraft noch den Willen dazu, mir Antworten zu erkämpfen.

Mit einem Zischen bremst einer der Züge am Bahnsteig, der nun endlich auch Assia in Bewegung versetzt. Ich habe gehofft ihren Augen auf einem Fahrplan folgen zu können, aber sie scheint es nicht für nötig zu halten, zu prüfen wo wir wann sein sollen. „Beweg dich, Paul. Das ist unser Zug." Mit einem frustrierten Stöhnen folge ich ihr und steige in das Monster von Metall.

Züge sind mir zu eng, vor allem wenn sie voller Koffer sind und man selbst aufpassen muss, niemanden damit umzunieten. Assia führt mich quer durch das Gefährt und stoppt schließlich mit einem Blick auf die Fahrkarten vor zwei Plätzen. „Ist das der moderne Weg nach Hogwarts?" Mit einer Schmolllippe lässt sich Assia auf einen der Sitze fallen. „Nichts kann man dir verheimlich. Ja, ich wurde dort angenommen und du bist meine Posteule." Ein glucksendes Lachen entweicht mir. Meine Wangen schmerzen davon, denn es ist diesmal nicht falsch.

Eine Stunde fahren wir durch die Walachei rund um London. Vielleicht sind wir auch schon meilenweit davon entfernt, mit Geografie hatte ich es noch nie. Meine aufgekratzte Freundin scheint in ihrem Koffer einen Rucksack zu haben, den sie trotz widerspenstigem Reißverschluss zu Tage fördert. Aus ihm zaubert sie allerlei Kleinigkeiten. Ein Stapel Karten lässt die Zeit wie im Fluge vergehen, während wir Uno spielen. Assia gewinnt dabei fast immer. Nach einer halben Stunde kramt sie Käsesandwiches aus den Taschen und spätestens wird mir klar, wie viel Mühe sie sich bei dem Ganzen gibt. „Danke Mummy", erwidere ich, als sie mir das Brot reicht. Selbstverständlich ist es eingewickelt in ein Bienenwachstuch, von dessen Existenz ist nichts wusste.

Als der Zug kreischend zum Stehen kommt, was in diesen Wiesenmeeren nicht allzu oft vorkam, packt Assia ihr Zeug zusammen und schiebt mich Richtung Ausgang. Dabei jage ich mindestens fünf Passagieren die Ecken meiner Reisetasche in die Rippen oder gegen die Schienbeine. „Entschuldigung" „Tut mir leid" „Ist nicht persönlich gemeint" „Sorry" „Falls wir uns wieder sehen, spendiere ich Ihnen einen Scone" Man könnte mein Zug-Gedicht vertonen. Und wer hätte es gedacht, wir landen in der Pampa.

Na gut, dieses Mal ist es eine Pampa mit Bäumen. Juhu. Und weit und breit ist kein Gebäude zu erkennen, außer die Plattform, auf die uns der Zug gespuckt hat. „Möchtest du mich hier aussetzen wie Hänsel und Gretel?" Assias Augenbrauen schießen in die Höhe, als hätte sie noch nie davon gehört. Ich kann dagegen nichts sagen, ich kenne es auch nur aus dem Deutschunterricht. Während der Koffer meiner Freundin sein Klagelied auf dem Wanderpfad singt und mein linker Arm sicher zehn Zentimeter länger gezogen wird als der Rechte, erzähle ich ihr die Geschichte von den beiden Kindern, die den fatalen Fehler begehen, einer Oma zu vertrauen.

Als ich mit der Geschichte ende, sieht mich Assia an, als hätte ich einen schlechten Scherz gemacht, aber ich versichere ihr, dass das kein kranker Traum eines kannibalistischen Psychopathen war. Mit dem Verstummen der Erzählung, merke ich erst, wie fix und fertig ich inzwischen bin. „Und du hast sicher kein Käsebrot mehr? Es muss auch nicht Käse sein." Nach einer weiteren viertel Stunde beginne ich wie ein Kind zu jammern. Dass ich die letzten paar Tage kaum etwas gegessen habe, muss sie ja nicht wissen. „Nein, du Vielfraß. Du hast schon während der Fahrt drei verdrückt! Ich habe höchstens noch Studentenfutter dabei, falls du Eichhörnchen spielen möchtest." Halbwegs zufrieden luchse ich ihr die Tüte mit den Nüssen ab und pule mir die Rosinen raus. Assia werfe ich damit ab, denn wer mag bitte Rosinen?

Damit ich aufhöre, reicht sie mir einen Würfel, den man so lange drehen und wenden muss, bis alle Farben auf einer Seite sind. Hat sowas überhaupt einen Namen? Zu der Belustigung meiner Freundin stolpere ich beim konzentrierten Drehen beinahe über jede Wurzel im Umkreis von drei Meilen. Das letzte Mal knalle ich volle Kanne gegen Assia, als sie vor mir zum Stehen gekommen ist. „Sorry, dein Bremslicht ist ausgefallen", erkläre ich, als ich den Würfel wieder aufhebe.

Wir stehen ein paar Fuß von einem Haus entfernt. Es scheint komplett aus Holz zu bestehen und verschwindet fast zwischen den Bäumen und dem bunten Laub. Es sieht nicht allzu groß aus, hat aber eine breite Veranda mit klischeehafter Hollywoodschaukel darauf. Ich hätte niemals auch nur eine Menschenseele in diesem Kaff erwarten, weshalb ich noch überraschter bin, als ich Linus und Cezara im Türrahmen stehen sehe.

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