Kapitel 68

95 8 0
                                    

Der babyblaue VW Käfer von Linus bietet mehr Platz, als ich ihm zugetraut hätte. Unser Gepäck passt insofern in den Kofferraum, als dass wir einzelne kleine Taschen zwischen die Füße nehmen und uns zu viert in den Wagen drängeln. Linus und ich vorn, Cezara und Assia hinten.

Während die Hütte hinter der ersten Kurve verschwindet, schleicht sich Wehmut in mein Herz, aber so traurig ich auch bin, dass es vorbei ist, umso glücklicher bin ich, dass das alles passiert ist. Über die beste Abfahrtmöglichkeit haben wir gestern schon diskutiert, aber Linus und Cezara bestanden darauf, uns mitzunehmen. Mit dem Zug geht es zwar deutlich schneller, aber den Sprit zu viert aufzuteilen ist für uns alle günstiger, als nochmals die Tickets besorgen zu müssen. Besonders Assia hat sich über diesen Beschluss gefreut, weil sie sich Herz über Kopf in das kleine Auto verliebt hat.

Um auch einen Teil an der Fahrt beizutragen, krame ich die kleine silberne Scheibe aus meinem Beutel, die ich aus einem der Souvenirläden aus der Stadt besorgt habe. Auf der Hülle prangt das Gesicht eines Mannes mit Rasterlocken und einer buntgestreiften Mütze. Eine gute Fahrt braucht eben gute Musik. Als ich die CD einwerfe und Reggae in voller Lautstärke aus der Anlage kommt, schmunzle ich vor mich hin. Das einstimmige „Bäh", das von meinen drei Mitreisenden kommt, bestätigt mich nur noch.

„Das schlimmste ist, dass du auf Repeat gedrückt hast!", mault Cezara von hinten. „Soll ich dir sagen, was das Schlimmste ist? Dass das nicht derselbe Song ist." Entgeistert schaut mich jetzt auch Linus an, der schon nach fünf Minuten den Kopf gegen das Lenkrad geschlagen hat. „Ich bin der Fahrer, also entscheide ich auch, was hier drinnen passiert!", hatte er befohlen. Aber auch er musste einsehen, dass mein Einwand berechtigt war, er müsse doch fahren und solle sich nicht ablenken lassen. Da gleich hinter dem Straßenrand Bäume wuchern, ist es auch so schon kompliziert genug, die Kurven vorauszusehen.

Ich bin froh, dass es nachmittags noch lange genug hell ist, als dass wir wenigstens nicht im Dunklen fahren müssen, was an einem Herbsttag schonmal passieren kann. Da die Reise aber eh nur zwei Stunden dauert, haben wir weder Proviant, noch irgendwelche Beschäftigungsmöglichkeiten an Bord. Dass fällt aber gar nicht auf, denn die letzten Tage bieten genug Gesprächsstoff für die nächsten Wochen. Und spätestens, als Cezara und Linus über ihre Aufgaben in der Schülervertretung reden, wird es interessant.

„Bieg links ab!", grätscht Assia den Erzählungen von Linus dazwischen, der erschreckt das Lenkrad rumreißt und gerade so in die Kurve kommt. Wir sind gerade eine Stunde unterwegs, als uns diese Nahtoderfahrung einholt. „Was sollte das denn?", fragt er schnaufend. Wir haben uns alle in der Schrecksekunde in das Nächstbeste gekrallt, wobei ich meine Finger in das Armaturenbrett grabe. „Sorry, ich hatte eben nur eine Idee. Ein kleiner Zwischenstopp macht doch niemandem etwas aus, oder?"

Nach weiteren Anweisungen von meiner besten Freundin, verklingt die waldige Landschaft und macht Platz für breite Wiesen und Felder. Die ersten Menschen tauchen an den Wegrändern auf und die Sonne lässt die kleinen Gebäudegruppen in ihren Farben strahlen. Wir fahren durch viele solcher kleinen Dörfer, zu denen nur um die fünfzig Häuser gehören können, wenn nicht sogar weniger. Irgendwann tauch ein kleiner Bach neben uns auf, dessen Lauf wir folgen. Der „kleine Zwischenstopp" entpuppt sich als unscheinbares Gebäude, in einem warmen Fliederlila. Es ist ein Eckhaus, dass nur ein paar Fuß von dem Bach entfernt steht. „Alle austeigen, bitte!"

Das fliederfarbene Gebäude ist eine Art Bäckerei, die mit Cupcakes, Waffeln und Eis wirbt, wie man unweigerlich an den Schildern erkennen kann. Drum herum sind Tische und Stühle in ähnlichen Pastelltönen aufgebaut, um an den letzten warmen Tagen noch draußen zu sitzen. „Kann es sein, dass du nur Geheimtipps hast, die mit Süßem zu tun haben?", frage ich halb im Scherz. „Ich kann dir auch einen guten Blumenladen in der Nähe empfehlen, aber ich glaube ein Snack für zwischendurch passt doch eher zu uns, findest du nicht?" Schnippisch wirft sie ihre Haare nach hinten und betritt, gefolgt von einem leisen Bimmeln, das Geschäft.

Mit großen Augen suchen wir uns Cupcakes aus, die in verschiedensten Geschmäckern vorhanden sind. Von Gurke-Krokant bis gesalzenem Karamell ist alles vertreten, was die Auswahl nicht leicht macht. Gleich daneben im Regal liegen genauso gutaussehende Kekse, die mich mehr als einmal in Versuchungen bringen. Aber wir sind wegen der angepriesenen Cupcakes hier, was uns Assia verraten hat, also versuche ich das Gebäck schweren Herzens zu ignorieren.

Das Plätschern des Baches und die letzten kraftvollen Sonnenstrahlen machen aus der einfachen Sitzbank im Gras etwas Besonderes. Gepaart mit dem Geschmack von fluffigen Cupcakes mit einer eingedrehten Creme-Haube ist diese Pause anbetungswürdig. Wir haben uns jeder zwei kleine Küchlein ausgesucht, wobei am Ende noch ein wenig gefeilscht wird, wer welches bekommt. „Aber es gab nur noch einen mit Buttercreme-Heidelbeere! Bitte, überlass ihn mir!", fleht Assia Linus an, der aber nur unbeeindruckt das Objekt der Begierde in die Hand nimmt und zum Mund führt. Man sieht förmlich, wie es in Assias Schädel rattert, ehe sie mit der flachen Hand ausholt und ihm das Dessert gegen die Nase ditscht. „Wenn ich den Cupcake nicht kriegen kann, dann soll ihn niemand bekommen!", zitiert sie aus einer mir unbekannten Quelle.

Mit neuer Energie und schmerzenden Wangenmuskeln von dem Lachkrampf vor ein paar Minuten, steigen wir wieder in das Spielauto und dampfen davon. Inzwischen steuert die Uhr auf den frühen Abend zu und durch den vollen Bauch und die weiten Ausblicke, wird es still unter uns. Allesamt hängen wir in Gedanken über das was passiert ist und noch vor uns liegt, aber es ist eine friedliche Stille. Da die Reggae-CD in der Naschpause auf wundersame Weise verschwunden ist und unter einem der Sitze vermutlich zum Fossil wird, läuft das Radio, bei dessen Songs immer mal wieder einer von uns mitsingt.

Das Schild, dass unser Eintreten in London willkommen heißt, löst ein Gefühl von Heimat in mir aus und im Frontspiegel erkenne ich, wie Assia mit leuchtenden Augen an der Scheibe klebt. „Assia ist nicht die Einzige, die Überraschungen auf Lager hat", gibt mein bester Freund mystisch von sich und biegt in einige Seitenstraßen, ehe auch er anhält. Er führt uns ein paar Gassen weiter, die in dem dämmrigen Licht zwar unheimlich, aber vertraut aussehen. Ohne dass Linus etwas sagen muss, kündigt das Leuchtschild die Überraschung an. In Neonschrift strahlt uns das Wort „London Burger Lover" entgegen. Die Fassade ist in einem satten schwarz gestrichen, was den Schriftzug noch mehr hervorhebt. Wortlos treten wir ein, mit inzwischen wieder leeren Bäuchen. Der Geruch, der einem entgegenkommt, feuert dieses Gefühl noch weiter an und wenn ich könnte, würde ich eigenhändig mein Burgerfleisch erlegen.

Das kleine Restaurant ist in einem Stil eingerichtet, der mich fasziniert. Der Boden besteht aus einfachem Beton, während die Decke mit einer Schicht unechtem Gras bedeckt ist, als wäre das ganze Lokal falsch herum. Kleine Kühe und Traktoren stehen zwischen den Büscheln und hauchen der Landschaft Leben ein. Der ganze Raum in dem wir uns befinden ist ziemlich klein und bietet nur für sechs oder sieben Tische Platz, wobei die kleine Eck-Küche einen transparenten Blick auf die Zubereitung zulässt.

Wir suchen uns das Abendessen aus, während Assia einen Halloumi-Burger für sich entdeckt. Kurz darauf wird der Tisch mit Süßkartoffelpommes, Burgern und Limonaden beladen, sodass wir gerade genug Platz zum Verspeisen haben. In Kurzfassung: Das Essen ist der Wahnsinn und durch die Einladung von Linus schmeckt das Essen sogar noch besser.

Wir lachen, wir quatschen, wir wecken Erinnerungen und das alles in einem kleinen Lokal am Rande Londons; das Leben kann so schön sein. Und sobald wir pappsatt sind und es nichts mehr zu erzählen gibt, was nicht in Müdigkeit umschwenkt, setzt uns Linus nach einander zu Hause ab und wir wünschen uns ein schönes Wochenende. Da mir schon beim Aussteigen fast die Augen zufallen, fällt die Begrüßung meiner Mum nur klein aus und wir vertagen allerlei Berichte auf den morgigen Tag. Ihr Blick spiegelt wider, wie glücklich ich aussehen muss und als ich in meinem Bett liege, vermisse ich fast das rasselnde Schnarchen meiner Freundin. Aber bis Montag ist es ja nicht mehr lang.

Be My Cookie (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt