Kapitel 6

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Mein Wecker wäre schon vor Jahren gestorben, würde er nicht in meinem Handy wohnen. Dass es niedliche Enten sind, die mich wachquaken, ändert nichts an meinem Hass zu diesem Stück Technikschrott und wie wild drücke ich auf den Tasten herum, damit die Enten endlich wieder friedlich schwimmen gehen. Schlaf gut, meinte Linus? Das hätte er sich auch sparen können, so mittelmäßig mies wie die Nacht heute war.

Im Halbschlaf krieche ich aus dem Bett und mache mich fertig, aber nicht mal die Dusche schafft es mich vollends wach zu spülen. Und so passiert es, dass ich mit einigen Erinnerungslücken in der Schule lande und vor meinem Spind im Flur stehe. Ich hätte länger schlafen können, stelle ich wie fast jeden Morgen fest, weil ich eh viel zu früh da bin. Aber lieber überbrücke ich ein wenig Zeit auf dem Flur, als mich in zwanzig Minuten zu meinem Spint durchkämpfen zu müssen. Außerdem habe ich so Zeit, mal meinen Spint einzusortieren, auch wenn ich gestern nur zwei Bücher bekommen habe...

»Guten Morgen, Paul. Was machst du schon so früh hier?« Und Tada, jetzt bin ich wach. Wie in Eiswasser geschmissen. Von hinten. Mit Augen zu. Nur würde ich in den Tiefen nicht in diese tiefbraunen Kakaoaugen blicken. »Hi, Julius. Ich bin gestern fast zu spät gekommen und hab mal wieder gemerkt, was ein paar Minuten ausmachen«, versuche ich so wenig krampfig wie möglich zu antworten, aber mein Kommunikationsapparat schläft noch. Seine Lippen verziehen sich zu einem schiefen Lächeln, wobei ihm ein Glucksen entweicht.

Das ist so gemein! Ich stehe hier, habe noch nicht mal in den Spiegel geschaut, nur irgendetwas aus dem Kleiderschrank angezogen und gerade mal eine Brotscheibe mit ungefähr fünfhundert Gramm Schokoaufstrich intus. Und dann ist er so… ausgeglichen, keine Augenringe sind zusehen, seine kurzen blonden Haare sind kunstvoll verstrubelt und er trägt eine schwarze Hose, die ganz wunderbar zu seinem hellblauen Shirt passt. Das Leben ist ungerecht.

Wieso ist Julius eigentlich auch schon hier? Ich frage ihn danach, aber eine Antwort werde ich in diesem Leben nicht mehr bekommen. Hinter einer Ecke kommt ein Mädchen zum Vorschein, stellt sich während meiner Frage hinter Julius und verdeckt seine Augen mit ihren Händen. Direkt mit dem ersten Blick erschüttert mich ihre Perfektion.

Die hochgeschnittene hellblaue Jeans hat sie mit einem hellbraunen Shirt kombiniert, das auf dem Jeansbund endet und damit leicht bauchfrei ist. Ihre Schuhe haben das gleiche Braun des Pullis und ihre Socken wiederrum den Ton der Hose. Ihre blond gefärbten Haare fallen ihr, um den Look abzurunden, in frischgedrehten Locken ums Mondgesicht, zurückgehalten von einer zierlichen goldenen Spange. »Wer bin ich?«, fragt sie den weniger erschrockenen Julius und zieht dabei das I lang. Julius‘ Lächeln verblasst ein wenig und er zuckt ungeduldig mit den Schultern. Er neigt den Kopf nach rechts und scheint nun doch zu überlegen. »Bist du vielleicht… Konrad?«, fragt er gespielt nachdenklich. Miss Viel-zu-harmonisch-und-perfekt quiekt auf und legt die Arme um Julius. Sie öffnet ihren Mund, um etwas mit ihrer hohen Stimme zu erwidern, aber Julius verdreht nur die Augen und schließt ihre Lippen mit einem unschuldigen Kuss. Ich stehe dabei nur neben den beiden und überlege angestrengt, wie ich mich in diese Situation gebracht habe.

Er… hat also eine Freundin? Also wundern tut mich das nicht, er sieht viel zu gut aus, um keine zu haben. Oder haben gerade gutaussehende keine, weil sich niemand traut sie zu fragen? Scheinbar nicht. Das Leben ist – nach wie vor – ungerecht. Dieses Gefühl, wenn man frisch verliebt ist und alles kribbelt, wenn einen die Person nur berührt… Ich werde sehnsüchtig nur vom Zuschauen. Ich verdränge diese Gedanken aber genauso schnell, wie sie gekommen sind – das ist ganz sicher nicht der richtige Zeitpunkt um Selbstmitleid auszuleben! Ich meine, ich freue mich für die beiden! Inzwischen lächelt Julius sogar ein bisschen und nicht mal ich komme um ein kleines Lächeln herum. Mit gekreuzten Armen lehne ich mich gegen meinen Spint, weil einfach gehen dann doch unhöflich wäre, oder?

Die beiden sehen unfassbar gut zusammen aus, wie aus einer Zeitschrift, in der das aufeinander abgestimmte paar in einem cremefarbenen Zimmer steht und minimalistische Deko bewirbt. Genauso schaut sie ihn auch an, mit Herzchen in den Augen. Sollte ich doch gehen? Mein Unwohlsein steigt auf eine gute sieben von zehn…
Theatralisch seufzte ich auf, als biete sich mir die langerwartete Kussszene, aus der schönsten Kitschromanze. Endlich lösen sich die beiden voneinander und Julius zupft unsicher an seinem Shirt. Seine Freundin scheint mich bis jetzt noch nicht wahrgenommen zu haben. »Ist das dein neuer Freund?«, fragt sie, während sie mich mit ihren Mascara-umrandeten Augen von oben bis unten abscannt.

»Naja… Also Freunde würde ich uns nicht direkt nennen… Also wir kennen uns erst seit gestern! Das ist Paul.« Um die komischen Schwingungen, die ich gerade von allen hier bekomme, loszuwerden, mische ich mich schnell ein und erlöse ihn von seinem Leid. »Jo, ich bin Paul«, ich reiche ihr die Hand, »Uns vereint die Leidenschaft für den Sport. Und wie heißt die Freundin unseres pflichtbewussten Generals?« Endlich weicht ihr prüfender Blick einem schmalen Lächeln, aber meine Hand lässt sie trotzdem vor sich in der Luft schweben. Sie scheint lieber mit ihrem Freund allein sein zu wollen, aber wer kann es ihr schon verübeln? »Ich bin Elizabeth. Aber alle nennen mich Lizzy. Nett dich kennen zu lernen. Ciao.« Sie schenkt mir kurz ihr bestes Zahnpasta-Lächeln. Als könne sie es nicht erwarten, greift sie nach Julius‘ Hand und zieht ihn mit sich. Dieser hebt noch kurz zum Abschied die Hand und schon sind die beiden aus meinem Sichtfeld geflüchtet.

Das war… merkwürdig. Mit zusammengezogenen Augenbrauen mache ich mich wohl oder übel zum Klassenraum auf. Gerade möchte Assia in den Raum abbiegen, als sie mich sieht und innehält. Sie hebt zur Begrüßung langsam die Hand, entscheidet sich dann aber doch zu mir zu kommen. Zusammen gehen wir zu unseren Plätzen als der Unterricht anfängt und zusammen erheben wir uns von ihnen, als der Unterricht endet.

»Ich habe mein Lateinbuch vergessen, darf ich mir vielleicht deins leihen?«, fragt sie am Ende noch zögerlich und ich erkenne an ihrem Gesicht, dass sie am liebsten gar nicht fragen würde. »Ja klar! Bei Mr Ryker würde ich an deiner Stelle nicht nach einem fragen, der ist echt krass drauf«, verspreche ich ihr und lächle ihr aufmunternd zu. Zu meinem Glück habe ich ihn schon in einem anderen Fach gehabt und weiß wie er tickt, aber im ersten Moment ist er echt angsteinflößend. "Du kannst mich immer gerne fragen, wenn sowas ist, das sind keine großen Umstände", werfe ich ihr noch im Gegen zu und zwinkere.

Nach vier weiteren Kursen werde ich dann endlich entlassen. Die Stunden waren nicht anstrengend, und so viele hatte ich heute auch gar nicht, aber die Hitze macht einen echt fertig. Seit der zweiten bin ich verschwitzt und nach der Pause war es dann vorbei mit jeglicher Konzentration. Von Hitzefrei scheint unsere Schule aber noch nie etwas gehört zu haben oder sie boykottiert dieses Konzept konsequent.
Als ich durch die großen Flügeltüren trete, schaue ich automatisch auf die große, mit goldenen Ziffern geschmückte Uhr und stelle bedauernd fest, dass ich die nächste Tube auf jeden Fall verpassen werde. Muss das heute sein?

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