Kapitel 39

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Der schwer erhoffte nächste Tag, der mehr Klarheiten schaffen soll, will einfach nicht kommen. Seit einer Weile, es fühlt sich an wie ein ganzes Leben, werfe ich mich von einer Position in die andere, aber es bringt nichts. Mein Kopf hat durch die ungeplanten Ruhephasen des Tages scheinbar genug vom Dösen, egal wie sehr mein Körper nach Schlaf schreit. In letzter Zeit habe ich nicht lange gebraucht, um im Land der Träume zu versinken, denn schon durch das Training war ich ausgelastet. Es ist mir heute wohl einfach nicht vergönnt.

Ich mache mir verstärkt Gedanken um alles. Mal sind es berechtigte, mal sind sie total absurd und unnötig. Und zu neunzig Prozent gehören sie dem Jungen mit den Schokoaugen. Sein Verhalten war auch ohne seinen heutigen Besuch mehr als rätselhaft. Anfangs nahm ich mir vor, die Tatsachen neutral zu analysieren, aber sobald der Blondschopf vor meinem inneren Auge schwebt, ist jede Objektivität vergessen. Dann also doch mit dem Herzen. Meine Interpretation des Geschehens hat folgenden Standpunkt: Alles widerspricht sich, aber Julius ist ein guter Mensch, das hat er mehr als einmal bewiesen. Ob diese Hoffnung vielleicht keinen kausalen Zusammenhang mit allem Logischen hat, ist mir durchaus bewusst. Und genau da verpufft Sherlock in tausende Staubkörner.

Der Kreis dreht sich ohne Fazit, immer schneller, bis mir schwindelig wird. Im Schneidersitz auf meinem Bett entscheide ich mich, mein Vorhaben aufzugeben und mich anderen Dingen zu widmen. Der Musik. Mit Kopfhörern bewaffnet, gehe ich meine Playlist durch und lasse mich berieseln. Aus Ahnungslosigkeit, was ich hören soll, entscheide ich mich für den Shuffle-Modus. Und dann passiert das, was ich befürchtet habe. Im müden Zustand werde ich, und ich glaube, dass es nicht nur mir so geht, sehr beeinflussbar und treibe eher auf meinen Gefühlen, als dass ich sie kontrolliere. Jetzt läuft Kein Liebeslied von Kraftklub. Mein Deutsch ist gut genug, um den Text zu verstehen und von all den geschmetterten Tränensongs der Weltstars, ist das mein liebstes Liebeslied.

Gerade spricht es mir aus der Seele. Und bedeutet meinen Untergang. Braune Augen blicken tief in mich und reißen mich in ihren Bann. Ein schiefes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen und er wischt sich eine Strähne aus den Augen, die sich verirrt hat. Dabei sieht er nicht perfekt aus, nicht makellos. Aber genau nach dem, was ich mir wünsche. Sogar in meinen Ohren klingt das nach liebeskrankem Mist, nach Geschnulze, aber was soll ich dagegen tun?

Zu meinem Bild von Julius gesellt sich mein Kopf-Ich und Farben bilden eine Kulisse. Wir befinden uns auf dem Spielfeld. Der Wind bläst mir die Haare aus der Stirn, als jemand an mir vorbei rast. Er klaut mir den Ball, die Spieler um uns herum sind vergessen. „Hol ihn dir doch, du kannst ihn gern haben." Seine Worte sind nur für mich bestimmt, dass wird durch deren Ton deutlich. Ich trete einen Schritt auf ihn zu, um meine Füße zwischen seine zu schieben, um den Ball wieder in Besitz zu bringen. Konzentriert auf mein Vorhaben bemerke ich nicht, wie er sich zu mir herunterbeugt und als ich hochschaue küsst er mich. Seine warmen Lippen auf meinen.

Das Bild verändert sich, wackelt. Wir befinden uns in einem Klassenzimmer, das, in dem wir Englisch haben. Genauso wie am Dienstag, als wir an der Gruppenarbeit saßen. Die Erinnerung an sein Bein an meinem, fühlt sich lebensecht an. Alle Details stimmen. Das Kribbeln nimmt mich ein, während ich ihn beobachte, so über sein Blatt gebeugt. Er rutscht ein Stück zu mir, um mir irgendetwas Gekritzeltes zu zeigen, da berühren sich unsere Schultern. Ich nehme allen Mut zusammen, den ich damals nicht hatte, schaue auf seine Lippen und überbrücke den letzten Abstand zwischen uns. Überrascht erwidert er den Kuss. In meiner Traumkulisse gibt es keine Liza, die wutentbrannt schreien würde und keinen Lehrer, der mit uns was weiß ich machen würde. Es gäbe nur uns.

Als die letzten Töne des Liedes erklingen, ist es dunkel. Draußen war das Licht schon lange verschwunden, aber auch in meinem Kopf beginnt es zu dämmern. Ich bin wieder vor der Turnhalle. Genauer gesagt in den Armen eines starken Jungen, der mich von meinem Peiniger wegführt. Außer Sichtweite, um eine Ecke verschwunden, presst er mich gegen eine der Wände des Schulgebäudes und gesteht mir, wie viel Angst er um mich hatte. Voller Schmerz in den Augen betrachtet er meine aufgeplatzten Lippen und versiegelt sie mit seinen; hauchzart, als sorge er sich um meine Verfassung. Er schlägt sich seinen Weg zu meinem Hals und ich schließe die Augen. Stürmisch dränge ich mich wieder gegen seine Lippen und bereue es ganz und gar nicht, diesen Kampf angefangen zu haben. Nicht, wenn es der Preis für ein Uns ist.

Aber so war es nicht. Enttäuscht fahre ich in meine Haut, raus aus meiner Fantasie. Nichts davon hat stattgefunden. Nichts davon wird jemals stattfinden. Diese Gedankenspiele, Träume, gehören nur mir. Und ich hasse es. Jetzt wäre der Augenblick, in dem ich Linus geschrieben und wie ein Teenagermädchen geschwärmt hätte. Julius ist nicht der erste, der sich in mein Herz gestohlen hat. Aber mit Julius bin ich allein. Linus weiß nichts von meinen Gefühlen, die ich ihm lieber persönlich beibringe. Assia möchte ich auch nicht anschreiben, sie hätte bestimmt nichts dagegen, aber mehr sagen als ich weiß, kann sie mir auch nicht. Es gibt einiges, was dagegen spricht es Linus zu erzählen, aber wiegt es so schwer? Ich entschließe mich, es ihm so bald wie möglich zu erklären und vielleicht findet er es ja gar nicht so schlimm.

Aber wie soll ich Linus erzählen, was ich für einen Typen empfinde, der mich in einem Moment schützend in die Arme schließt und im anderen Konrad aussetzt? Woher soll ich selbst überhaupt noch wissen, was ich für ihn fühle? Irreale Situationen hin oder her, weiß ich überhaupt, was ich von ihm möchte? Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen, wenn wir uns sehen. Das klingt so einfach. „Hey, Julius. Als wir uns kennengelernt haben, habe ich dir misstraut, aber dann warst du doch ganz nett. Sehr nett. Wieso warst du dann letztens so ein Arschloch?" So geht das auf keinen Fall. Ich kann das nicht.

Vielleicht bin ich auch der Verrückte. Vielleicht hat Julius genauso gehandelt, wie jeder es gemacht hätte und ich sehe es nicht, weil ich blind bin. Schon wieder drehe ich mich. Heute wird ganz sicher nichts Vernünftiges mehr aus meinem Kopf kommen. Oder es wird nichts mehr aus meinem Kopf kommen, was so vernünftig ist. Sicher ist nur, dass ich etwas Dummes machen werde, wenn ich jetzt nicht schlafe. Und von Dummheiten habe ich erstmal genug. Dabei würden mir die Dummheiten, die ich mir bisher vorgestellt haben, sicher guttun.

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