Kapitel 52

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Die dunkelgrün lackierte Tür, die Assias ganz persönliches Reich von der Außenwelt verschließt, ist durch den Sturm der letzten Tage noch rauer. Die Farbe pellt sich in Streifen von dem Holz; der bronzene Türklopfer in Form eines Löwenkopfes sitzt schief. Ehe ich ihn betätige, natürlich könnte ich auch klingeln, aber das wäre viel zu langweilig, wird die Tür aufgerissen und eine noch wuscheligere Assia als sonst kommt mir entgegen. Wir einigten uns heute Vormittag auf eine Zeit, zu der wir uns bei ihr treffen wollen, um zusammen zurück zur Schule zulaufen.

„Möchtest du dich überraschen lassen, welcher Film kommt, oder möchtest du Insiderinformationen haben?" Fröhlich schlendert sie an mir vorbei und hat scheinbar vergessen, mich zu grüßen. Ich möchte nicht wissen, wie viel schon durch ihren Kopf raste, ehe sie den Mund aufgemacht hat. Sobald meine Freundin einmal in Fahrt ist, weiß man, mit welcher Geschwindigkeit ihre Gedankengänge sprinten.

„Eine Portion Extrawissen bitte, aber ohne Koriander." Ich stimme in ihre gute Laune mit ein und ziehe die Hände aus den Hosentaschen. Irgendwann mache ich Assia zu meiner persönlichen Agentin. Lachend schüttle ich mir die letzten Spuren der schlechten Laune aus den Klamotten. Assia ist schon längst an mir vorbeigedüst und dreht sich schwungvoll zu mir um. Das Wehen ihrer Haare vermisse ich dabei fast, weil sie sie zu einem Zopf gebändigt hat. „Wir schauen ‚Into the wild'. Habe nicht viel Gutes über den Film gehört, aber er soll wohl tolle Naturaufnahmen zeigen und ein interessantes Diskussionsthema sein." „Vorsicht Bordstein." Die Türkishaarige weicht gerade so einer Kante aus, die sie nicht gesehen hat. Trotzdem lässt sie sich nicht davon abbringen, vor mir rückwärts zu laufen, um mich im Auge zu behalten und gleichzeitig ihre Energie loszuwerden.

Um sie ein bisschen zu ärgern, verlangsame ich meine Schritte spürbar. Schnell erreiche ich mein Ziel. „Ey! Hör auf so trantütig zu sein und erzähl mir lieber, wie dein Tag war." Ich denke nicht daran, mein Tempo anzuziehen. „Ich habe heute Nacht was ziemlich Cooles geträumt, aber ich weiß nicht mehr, was es war. Die letzte Klausur diese Woche war ganz okay. Und bei dir?"

Wir teilen noch weitere Eindrücke, ehe wir das Schulgelände erreichen. Ich hab es durch das Training schon oft abends gesehen, aber war um diese Zeit nie drinnen. Es ist so in Dämmerlicht getaucht, dass es aussieht, als wäre es eine gesicherte Burg, die lange Schatten wirft. Ich möchte gerade zum Haupteingang abbiegen, als mich Assia am Arm festhält. „Nein, nein. Wir sehen den Film in der Bibliothek. Da soll die Stimmung deutlich besser sein, als im Hauptgebäude."

Der versteckte Raum erinnert noch mehr an einen Geheimgang einer Burg, vor allem zu dieser Tageszeit. Als ich Assia von meinen Gedankensprüngen erzähle, weben wir ein Netz um eine versteckte Schule, in der Schüler in Gängen verschwinden und Lehrer zu Mördern werden. Mit einem letzten Kichern auf den Lippen, betreten wir die Bibliothek.

Das Grinsen vergeht mir jedoch sofort wieder, als ich die Menschen sehe, die sich schon in eine entspannte Position gelümmelt haben. Konrad sitzt mit jeweils einem Mädchen im Arm, auf der Couch und flüstert ihnen etwas ins Ohr. Seine oberen Haare sind zu einem ordentlichen Dutt gebunden, während die Seiten frisch getrimmt aussehen. Mit seinem frechen Grinsen und den verschmitzten Augen scheint er seine Begleitungen voll im Griff zu haben.

Mein Herz setzt bekanntermaßen eine schreckliche Sekunde aus, fängt sich aber schnell wieder. Wir sehen uns nicht das erste Mal seit dem Vorfall. Auf den Fluren und in den Klassenzimmern kann man das nur schlecht verhindern, gerade wenn man zu dieser Jahreszeit nicht mehr auf den Hof ausweichen kann. Ignorieren war bis jetzt die Faustregel, mit der wir uns durchgeschlagen haben. Kein Wort haben wir seit dem Abend gewechselt, keinen Blick ausgetauscht. Auch jetzt registriert er nur meine Anwesenheit, mehr aber auch nicht. Soll mir recht sein.

Vielmehr ist es Julius, der mich aus der Fassung bringt. Er sitzt mit ein wenig Abstand neben einem der Mädchen und Konrad. Seine düstere Miene ist dieselbe wie seit Wochen, an der selbst der Damenbesuch nichts zu ändern scheint. Er nimmt keine Notiz von seinen Couchpartnern, ist aber so zu Konrad gebeugt, als hätten sie auch schon getratscht. Oder was coole Jungs ebenso machen. Wir sollten uns an der Hüfte zusammennähen, wie siamesische Zwillinge.

Der finstere Junge funkelt mich einmal kurz an und richtet den Blick dann wieder auf den schwarzen Monitor. Ich wende mich Assia zu, die mich normalerweise schon längst weitergezogen hätte, aber auch sie mustert die beiden argwöhnisch. Verhalten lehne ich mich zu ihr und flüstere „Wir können nicht beide starren." Mit meinen Worten löst sie ihren Blick von ihnen und betrachtet nun mich. Ihre Augen huschen über mein Gesicht, als suche sie nach Anzeichen einer geplanten Flucht oder Schock, aber ich lasse sie nicht fündig werden. Diese Art der Gefühle habe ich schon längst in mir verschlossen. Genug Ausbrüche für die nächste Zeit.

Mit starrer Miene ist es an mir, sie an einen Platz zu ziehen. Ich entscheide mich für eine freie Raumecke zwischen zwei Regalen, von der aus man von den Blicken der anderen verborgen ist. Dieses Mal ist es nicht nur nach Assias Geschmack. Erst als wir uns niedergelassen und unsere Sachen abgestellt haben, erlaube ich es mir, meine Augen auf Wanderschaft zu schicken.

Es sind deutlich mehr Mädchen als Jungs hier, aber alle scheinen vertraut miteinander zu sein, als wären das die Stammgäste dieser Abende. Generell ist die Atmosphäre eigentlich sehr gemütlich, mit rötlichem Licht und Kissen in jeder Ecke. Alles scheint mit viel Liebe eingerichtet worden zu sein, sogar die Snacks wurden mit einer kulinarischen Ader ausgewählt. Eine beherzte Mischung aus Süß und Salzig. Einzig die Fenster erinnern noch an das Schulgelände, auf dem wir uns befinden, weil es wohl niemand für nötig gehalten hat, die Vorhänge vor die Fenster zu schieben. Es wird eh gleich so Dunkel werden, dass man nichts mehr erkennen würde können.

Eigentlich ziemlich perfekt für diesen Abend. Eigentlich ganz nach meinem Geschmack. Eigentlich das perfekte Event nach einem anstrengenden Tag. Eigentlich. Dieses Wort würde nicht mehr durch meinen Kopf spuken, wenn nicht Julius und Konrad mit mir auf engstem Raum sein würden. Unter ihrer Anwesenheit scheint sogar die Luft dünner zu werden. „Ist alles okay? Wenn du dich mit denen Unwohl fühlst, dann..." Assias Stimme ist nur ein Hauchen, das einen Wirbelsturm in meinem Kopf auslöst. Aus reiner Gewohnheit nicke ich abwesend, obwohl diese Geste keine Aussagekraft mehr hat.

Ist alles okay? Bisher habe ich geglaubt, dass ich fertig mit dem Thema Konrad wär. Aber das Thema Konrad ist wohl noch nicht fertig mit mir. „Wir starten jetzt den Film, also bitte, macht es euch bequem." Eine zierliche, kleine Frau bedient die Fernbedienung und der Vorspann startet. Sie muss zur Lehrerschaft gehören, sonst käme sie mir nicht so bekannt vor.

Die mit dem Knopf gestartete Ruhe, scheint mir anfangs ein Segen zu sein. Als ich aber bei jedem Knistern und Rascheln denke, dass es Julius sein könnte, verwandelt sich der Segen zum Fluch. Wieso müssen die beiden auch hier sein? Unser Streit am Montag hängt wie vieles mehr noch immer zwischen uns und der Samen voller Unsicherheit und unterdrückten Gefühlen keimt auf. Ist das von Julius endgültig das Zeichen, dass er nur noch auf Konrad zählt? Mir wird schlagartig klar, dass sich Julius und Konrad immer nähergekommen sein müssen, während wir uns immer weiter entfernt haben. Wir hätten so viel besser sein können. Eine Welle des Verlangens durchfährt mich und geht in Fluten der Sehnsucht unter.

Ein Puzzlestück heftet sich ans nächste und ein Bild entsteht in meinem Kopf, das mein Herz immer weiter nach unten rutschen lässt. Am liebsten wäre ich jetzt ganz weit weg, aber ich bin gerade Assia zuliebe hier! Geräusche des Filmes werden zu einem einheitlichen Murmeln in meinem Kopf, scheinen die Wände zu befehligen, mich nicht mehr raus zu lassen. Die Stille schlägt blind nach meinen Ärmeln. Alle meine Zweifel schmeiße ich über Bord und werfe meine Gedanken gleich hinterher.

Mit holprigen Schritten winde ich mich zwischen den Regalen und stürze aus dem Raum.

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