Kapitel 76

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„Was genau sollte das eigentlich darstellen?", fragt mich Assia, als sie mir ihr Handy unter die Nase schiebt. Der grüne Lockenkopf grinst schon seit unserer Begrüßung schadenfroh, wobei ich erst jetzt verstehe, was es damit auf sich hat. Ich habe ihr scheinbar ein Selfie geschickt, als ich hackedicht und bei Julius war. Welche Intention ich damit verfolgte, kann ich nicht mal mehr erahnen, zumal es einfach nur ein verwackeltes Foto ist, auf dem ich angeschnitten bin und ein paar Büsche hinter mir stehen. Vielleicht wollte ich ihr ja Gartentipps zeigen, oder was ein Betrunkener sonst so macht.

„Ich habe keinen Plan, aber du siehst, ich habe dich nicht vergessen! Danke nochmal, für alles." Dankbar schließe ich sie in die Arme und genieße den Augenblick kurz. Assia nuschelt mir jedoch nur ", an den Hinterkopf. Lachend schiebe ich sie von mir und gebe eine Kurzzusammenfassung von der Party und dem gestrigen Tag, wobei sie mich dabei genauso verwirrt mustert, als ich bei Julius anfange. „Und du bist dir ganz sicher, dass du in der Nacht keinen Blödsinn gemacht hast? Ich meine wie verrückt muss jemand sein, erst den Advocatus Diaboli zu spielen und dann wie ein kleines Pfadfindermädchen aufzutreten. Traust du der Sache?" In dem Blick meiner besten Freundin liegt etwas Kritisches. „Keine Ahnung, es wäre schön, wenn es so einfach wäre, aber der Typ ist so unberechenbar, dass ich gar nichts mehr glaube. Außerdem halte ich mich da raus; wenn er jetzt unbedingt lammfromm sein möchte, dann soll er nur machen."

Nickend gehen wir in den Raum und stellen unsere Sachen an dem Tisch ab, an dem wir seit dem ersten Tag sitzen. Mister Wi steht auch schon vorn und kritzelt etwas in seiner unlesbaren Handschrift an die Tafel. „Kapitel eins bis zwanzig bis Mittwoch, dem 04.11. lesen", versucht Assia stotternd zu entziffern. „Welches Buch glaubst du lesen wir", frage ich sie, aber Mister Wi ist schneller. „Wenn Sie das unbedingt wissen möchten, dann helfen Sie mir doch gleich beim Bücherholen. Shroeder?", er dreht sich wieder zu Klasse, „Sie und Mister Wilson helfen mir bitte beim Tragen. Miss Carter, Sie bitte auch."

Mürrisch stehe ich auf, weil ich an einem Montagmorgen alles lieber tun würde, als unnötige Schritte zu machen, aber im Vorbeigehen winke ich August kurz zu. Julius, Peggy und ich trotten Wi brav hinterher, der uns zu einem der Lagerräume in der obersten Etage führt. Kaum hat er den Raum aufgeschlossen und ein paar undeutliche Anweisungen gegeben, da verschwindet er auch schon im nächsten Lehrerzimmer. Der arme Herr darf sich bloß keinen Finger krümmen. Aber Peggy scheint seine Sprache zu sprechen, greift nach einem Stapel Bücher und geht wieder Richtung Klassenraum. Julius tut es ihr nach und schnappt sich die letzten Bücher aus dem Regalfach, wobei er an der Tür stehen bleibt und auf mich wartet.

Ich greife nach der letzten Fuhre Bücher, die sich als „Lord of Flies" entpuppen, komme aber nicht an das obere Regalfach heran. Auf Zehenspitzen taste ich nach einigen Buchrücken, bekomme aber nur Staub zu fassen. Na lecker. „Kommst du endlich mal?", wirft mir Julius von draußen zu. Sein genervter Ton erinnert an die letzten Wochen und verärgert stelle ich mich mit den Zehenspitzen auf den Boden des untersten Regals, fasse aber immer noch ins Leere. „Mach es doch selbst", zische ich zurück. Keine Sekunde später höre ich Schritte und von hinten stellt sich ein warmer Körper an mich. Julius geht auf Zehenspitzen, legt eine Hand an meine Taille, damit ich selbst nicht umfalle und greift nach einer Handvoll Bücher.

Keinen Millimeter wage ich mich zu bewegen. Mit angehaltenem Atem und einem Wärmegefühl im Bauch verharre ich kurz in der Position, ehe mir der Junge mit den Schokoaugen ein „Guten Morgen" an meinen Kopf murmelt und dann Abstand zwischen uns bringt. „Danke", hauche ich nur zurück, „Und guten Morgen." Perplex nehme ich Julius die Bücher aus der Hand, sodass er seine Fuhre nehmen kann, die er irgendwo abgestellt hat und gehe Richtung Klassenraum.

Was zum Teufel war das jetzt? Kaum sitze ich wieder auf meinem Platz, schaut mich Assia fragend an, weil mein Gesichtsausdruck anscheinend Bände spricht, aber ich zucke nur mit den Schultern. Kam das für mich nur so... heiß rüber? Oder habe ich mir den Augenblick eingebildet und er hat mir einfach nur geholfen? Aber wer hilft so bitte einem Freund? Jemand der weiß, was er kann? Aber egal wie seltsam das eben auch war, alle Fragen sind mit dem Plan zu beantworten. So lange nicht beachten, bis... ein Heiliger vom Himmel fällt oder so, was auch immer passieren soll. Schlimm genug, dass ich schon so viele Ausnahmen gemacht habe, als ich das Wochenende über bei ihm war.

Mit dem Beginn der eigentlichen Unterrichtsstunde werden meine Gedanken weggewischt und es wird Platz gemacht für die Diskussion, ob zwanzig Kapitel in drei Tagen überhaupt zu schaffen sind. Und als unser Lehrer dann das nach ihm, sehr philosophische und interessante Buch vorstellt, werden die Proteste abermals lauter. Aber am Ende sitzt er trotzdem am längeren Hebel.

So richtig unterhalten können wir uns aber erst alle, als wir uns zur Mittagspause in der Mensa treffen. August ist diesmal der erste der da ist und textet mich sofort über Mister Wi voll, der scheinbar glaubt, er sei der Oberguru, aber er ist viel zu aufgeregt auf die nächsten Tage, als dass er dem Lehrer lange böse sein kann. „Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt an einem Trainingscamp teilnehme, auch wenn ich nur darüber berichten soll!" Lachen pikse ich ein Stück vegetarisches Schnitzel auf meine Gabel und unterbreche den wuseligen Beannieträger. „Das richtige Trainingscamp kommt erst im nächsten Semester. Das Wochenende wird nur eine Trainingseinheit für die Spiele und glaub mir, sei froh, dass du nur darüberschreiben musst. Das letzte Mal als wir sowas gemacht haben, konnten wir zwei Wochen danach nur unter Schmerzen laufen, solchen Muskelkater hatten wir. Aber was tut man nicht alles für diesen Körper." Zur Untermauerung hebe ich die Arme und spanne meinen Bizeps an, wobei da nicht gerade viel passiert.

„Ich freue mich auch schon total. Bei mir ist es auch das erste Mal, weil ich letztes Jahr ja nicht konnte." Julius stellt sein Tablett neben August ab und steigt sofort in das Gespräch ein. „Aber ich kann mir vorstellen wie anstrengend das wird und mein Trainer hat uns schon die Pläne gegeben. Es klingt so, als würde er uns zum Gladiator ausbilden wollen, aber Konrad hat natürlich gefragt, ob wir nicht am Abreisetag eine letzte Trainingseinheit machen können, dieser Sklaventreiber." Beim Erzählen gestikuliert mein Gegenüber fröhlich, wobei August und ich uns nur schief anschauen. Mein Freund übergeht die Erwähnung Konrads aber nur durch einen neuen Schwall Erzählungen und bekommt durch Julius' guter Laune einen so großen Kick, dass ich August kaum folgen kann.

„Tut mir echt leid, dass ich so spät komme, aber wir haben in der Bibliothek eine neue Kiste Bücher bekommen und du wirst nicht erraten, was ich dabei gefunden habe!" Damit unterbricht meine beste Freundin August und hält mir ein hellrosa Buch entgegen. Bevor ich danach greifen kann, hat Julius es ihr schon aus der Hand gerissen und liest leise vor: „Red, White and Royal Blue." Dann dreht er es um und widmet sich dem Klappentext. Mir schießt sofort die Röte ins Gesicht. Das Buch habe ich natürlich sofort erkannt, schließlich war ich es, der Assia davon erzählt hat, wie gern ich es lesen würde, aber dass es um die Geschichte von zwei Jungs geht, kann man nicht übersehen. Assia und ich schauen uns kurz verdächtig an und warten dann auf Julius' Reaktion, aber dieser gibt mir nach Beendung des Klappentextes das Buch wieder und fragt, ob ich ihm bescheid geben könne, wenn ich es durchgelesen hätte. Wiedermal verblüfft sage ich zu und verstaue das Objekt in meiner Tasche.

„So wirst du mich während des Trips vielleicht nicht vergessen", beendet meine beste Freundin das Thema und holt mich aus meinen Fragen raus. „Als ob man dich vergessen könnte!", wirft August an meiner Stelle ein und mir fällt auf, dass Assia tatsächlich die Einzige ist, die nicht mitkommt. „Ich verspreche dir, dass ich dich jeden Abend anrufe und es sind nur knapp vier Tage. Außerdem kann ich dir auch ganz viele Fotos schicken." Assia versteht die Anspielung und grinst mich ungehalten an. „Ich möchte den Hörer aber auch mal haben!", meint Julius und zaubert meiner Freundin einen rosa Schimmer auf die Wangen. Zufrieden atme ich tief ein und aus und betrachte meine Freunde mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Nein, so schnell wird niemand jemanden vergessen.

„Wenn es Queen Assia verlangt, werde ich mich als Vertreter der königlichen Presse bereit erklären, jeden Artikel vor Druckbeginn an Euch weiterzuleiten, Euer Hochwohlgeboren." Mit einer angedeuteten Verbeugung bringt er uns alle zum Lachen und wir essenunser Mittag auf, ehe wir zurück zu den nächsten Kursen gehen.

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