~1~

4.8K 127 40
                                    

Ich konnte mich glücklich schätzen, dass achtzig Prozent meiner Tasche mit Kohle vollgepackt war.

Anders hätte ich das Haus auf Zeit nicht zahlen können. Mit der knapp halben Million, Akil hatte mir zu seiner Zeit über mir fragliche Wege ein anonymes Konto eröffnen können, war ich hier die Ärmste.

Weil Cannes [Frankreich] keine Stadt der Millionäre war, es war die Stadt der Milliardäre. Ich war hier noch unbedeutender als in Madrid.

Ich besaß weder Handy, noch irgendein anderes elektrisches Gerät. Ich schottete mich ab und war auch sonst nicht interessiert daran, Kontakte zu knüpfen. Ich arbeitete in einem Garten der Nachbarin, die mir keine Fragen stellen durfte. Wir pflückten täglich Gemüse und Obst. Ich weiß, beschissener Job, aber was anderes blieb mir nicht übrig.

Und nichts war mir lieber, als zu überleben.

Die Nachbarin selbst hatte übrigens keine Zeit, Gemüse zu pflücken, das taten ihre hundert Dienstmädchen. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie sie bereit war, sich auf mich einzulassen. Aber ich war froh, denn ich war eine von hundert.

Dämliche Blumen pflücken ließ mich in der Woche etwa über zwei Tausend Euro verdienen. Ich sagte ja, Cannes war eine reiche Gegend.

Ich war jetzt schon seit drei Wochen hier und das Leben konnte nicht langweiliger sein. Hinzu kam, dass ich Riccardo über alles vermisste. Trotzdem wollte ich ihm lieber nicht über den Weg laufen. An meinen Vater verschwendete ich keinen einzigen Gedanken. Ich wünschte mir, dass er weiterhin tat was er tat und anfing zu vergessen, dass er eine Tochter hatte.

Sollte er doch glauben, Davide und ich seien zusammen gestorben.

Ich wollte diesem Mann nie wieder in seine dreckigen Augen blicken.

Es war gerade Spätsommer, aber immer noch viel zu warm, weswegen ich immer zu luftige, kurze Kleider trug.

An einen der heißen Abende spazierte ich zum Café herunter, weil ich dachte nach dem Feierabend würde mir ein Frozen Joghurt sicherlich gut tun.

Ich stellte mich vor der Eismaschine und wartete, bis mir der Joghurt in den Becher ausgegeben wurde. Dann lief ich zu einem Tisch und streute noch Erdbeerstücke und Schokosauce darauf.

Die Glocke über der Tür ertönte und ein junger Mann trat hinein.

Er trug eine Aktentasche, war trotz des heißen Wetters mit Hemd und Hose gekleidet und hatte sein Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt.

"Oui, je sais. D'accord [franz.: Ja, ich weiß. In Ordnung.]", er hob zur Begrüßung seine Tasche tragenden Hand, offensichtlich kannte er die ältere Verkäuferin und kam oft hierher. "Salut? Vous m'entendez? Salut? [franz.: Hallo? Hören Sie mich? Hallo?]", sprach er in den Hörer.

Zugegeben, französisch war meine Schwäche. Kein Wunder, so sehr wie sie nuschelten und so schnell wie sie redeten. Ich war halb Spanierin, ich wusste, wovon ich redete.

Ich setzte mich auf einen Hocker am Fenster und blickte auf den Strand. Cannes hatte so wahnsinnige Ähnlichkeiten mit Valencia-City. Aber es würde nie das gleiche sein. Hätte ich die Wahl, würde ich mich immer noch für Madrid entscheiden. Weil ich mit Madrid Riccardo verband und die Zeit in Madrid für mich die schönste in meinem Leben war.

"Excusez-moi? Avez-vous un chargeur avez vous peut être? [[franz.: Entschuldigung? Haben Sie vielleicht ein Ladekabel dabei?]"

Er war selbst noch am Rumtippen, versuchend, das Handy zum anmachen zu animieren, als er aufschaute und sich kurzerhand in meine Augen verlor.

In ziemlich verwirrte Augen.

"Un chargeur? Pour-pour un huawei? [franz.: Ein Ladekabel? Für-für ein Huawei?]", hakte er mit gehobener Braue nach.

R O M E R O II [Riccardo Mancini]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt