Kapitel 93. Papier

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Explizite Triggerwarnung für Selbstverletzung. Für eine Zusammenfassung des Kapitels oder für Infos zum Thema Selbstverletzung/Suizidgedanken dürft ihr mir immer gerne schreiben. 

Ich klebe mir die Klinge mit Klebeband an den Ellbogen, dort wo seit meinem Sturz auf der Treppe vor Papas Haus Platten und Schrauben verankert sind. Eigentlich wäre einer der vielen Verbände aus dem Schrank im Bad dafür besser geeignet, aber ich will nicht riskieren, dass Danny die fehlenden paar Zentimeter Tape bemerkt und meine Arme und Beine kontrolliert. Eigentlich hat er das nie getan, mich auf Selbstverletzung kontrollieren, wahrscheinlich mit dem Ziel, eine vertrauensvollere Beziehung zwischen uns aufzubauen. Hat auch etwas funktioniert, schätze ich. 

Aber gerade traue ich ihm durchaus zu, mich zu kontrollieren. Danny ist nicht dumm, er hat die Veränderung in meinem Verhalten wahrgenommen, die ich selbst kaum bemerkt habe. Irgendetwas in mir, dass es unmöglich macht, mich richtig zu konzentrieren, richtig zu denken, richtig zu handeln. Ein Gefühl wie Unterwassersein. Ich klebe die Klinge stattdessen an die Rückseite meines Oberarms, sodass meine Unterarme frei sind und mein Betreuer nichts findet, dass ihm Sorgen bereiten kann. 

"Hast du alles?", fragt Danny besorgt, als ich fertig angezogen aus dem Zimmer trete. Dieses Mal ohne Anzug und mit olivgrünem Pulli aus dem Second-Hand-Laden, schliesslich ist das Urteil ohnehin schon entschieden, mein Aussehen spielt dabei keine Rolle mehr. 

"Glaub schon", erwidere ich matt und sehe mich im Zimmer um. Die zwei Pflanzen, die mir gehören, starren stumm zurück. Es tut mir ein wenig leid, sie hier so alleine zurückzulassen, wie schon letztes Mal. Danny reisst mich aus meinen Schuldgefühlen, indem er mir eine warme Hand auf die Schulter legt. 

"Worüber denkst du nach Tres?"

"Ich hab vergessen, den Pflanzen Wasser zu geben", erwidere ich zerstreut und mache einen fahrigen Schritt zurück in den Flur, um nach der Giesskanne zu suchen. 

"Das kannst du ja auch nachher machen", sagt Danny beschwichtigend, während er mich mit besorgtem Blick im Auge behält. "Nein", widerspreche ich energisch. "Ich muss das...jetzt machen."

"Okay", meint er nur, während ich die Giesskanne im Bad unter den Hahn halte. Die Klinge an meinem Arm rutscht in ihrer Klebebandverpackung hin und her, drückt unangenehm in mein Fleisch. Der Sozialarbeiter beobachtet mich schweigend dabei, wie ich Wasser in die Töpfe leere und kurz nach den dicken Sukkulentenblättern fasse.

"Tres. Machst du dir Sorgen, dass du nicht mehr hier hin zurückkommst?", fragt er schliesslich, als ich die Kanne wieder an ihren angestammten Platz zurückgestellt habe. Unsere Blicke begegnen sich kurz.

"Meinst du, sie legen mir Handschellen an?", bemerke ich kleinlaut. Er schüttelt den Kopf. "Nein, werden sie nicht. Sie werden dich wahrscheinlich nicht direkt aus dem Gerichtssaal mitnehmen."

Ich nicke halbherzig und drehe den Schlüssel der Haustür im Schloss. "Ich mag Handschellen nicht", meine ich mehr zu mir selbst, es klingt jämmerlich. Danny sieht mich besorgt an.

"Tres", sagt er behutsam. "Versuch dich daran zu erinnern, was deine Anwältin gesagt hat. Das Urteil lässt sich wahrscheinlich anfechten, ja?"

Ich schüttle müde den Kopf. Das Gericht, das über mich urteilt, ist ein Landgericht. Und Landgerichte lassen keine Berufungen zu, nur Revisionen. Und Revisionen sind sehr schwer zu erreichen, denn sie bedingen, dass das Landgericht einen entscheidenden rechtlichen Fehler in meiner Verurteilung gemacht hat. Danny weiss das, ich habe selbst die ausgedruckten Dokumente zu dem Thema auf seinem Schreibtisch gesehen. Wir wissen es beide. Und sein aufgezwungener Optimismus hilft mir keine Spur. 

Danny versucht während der Fahrt mit mir zu reden. Das übliche halbtherapeutische Gefasel. Wie kann ich dir helfen, was denkst du, hilft dir, wie kann ich dich dabei unterstützen. Ich seufze gereizt und schliesse die Augen.

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt