Die Erste von vielen

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Noch in der selben Nacht lag ich wach in meinem Bett und dachte über Jurians Worte nach. Das, was er mir gesagt hatte, war mir nicht neu. Mutter hatte diese Worte ebenfalls an mich gerichtet. Doch ich kannte Jurian seit meiner Kindheit, er war mir seither ein guter Freund gewesen. Ich vertraute seiner Sichtweise. Es war wie ein Zwiespalt, der mich zwischen diesen beiden Möglichkeiten hin und her riss. Ich konnte mit diesen Männern mitgehen, dabei ein wenig Geld nach Hause bringen und vielleicht sogar ein besseres Leben führen als hier im Dorf. Doch andererseits stand der Winter bevor. Ich wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass diese Zeit nicht einfach werden würde. Besonders nicht alleine. Ich würde Mutter in dieser Zeit nicht unterstützen können, wenn ich nicht hier war und sie ließ sich nur sehr ungerne auf die Hilfe anderer ein.

Ich blickte am Rande des Bettes in Richtung Fenster und beobachtete einen Moment den Nachthimmel, mit seinen leuchtenden kleinen Punkten. Meine Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf umher. Jedes einzelne Detail meiner möglichen Wahl nahm ich genauer unter die Lupe und hatte selbst nach Stunden, die ich stumm im Bett liegend verbrachte, noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Jedes Mal wenn ich dachte, mich endlich für eine Seite entschieden zu haben, traf mich ein erneuter Gedanke, der meinen Beschluss wieder verwarf.

Natürlich brauchten wir das Geld, das wusste ich gut genug. Mit Sicherheit konnte ich meine Mutter auch für ein paar Tage hier alleine lassen, dies würde sicherlich keine großen Probleme verursachen. Doch für mehrere Wochen, vielleicht auch Jahre? Das würde sie nicht schaffen. Wir beide nicht. Denn in dem Augenblick traf mich erneut ein weiterer Gedanke, der meine Entscheidung zu beeinflussen versuchte. Wenn ich gehen würde, musste ich nicht nur meine Mutter zurücklassen, sondern das gesamte Dorf, Jurian mit eingeschlossen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es sein würde, ihm nicht mehr täglich zu begegnen und diese seligen Gespräche mit ihm zu führen.

Es würde mein Leben vollkommen verändern, wenn ich diesen Männern folgen würde. Zumal ich nicht einmal genau wusste, was mich dort erwarten sollte. Phileas war mir bereits recht freundlich vorgekommen. Sein Bruder hingegen schien einen Kontakt mit mir eher vermeiden zu wollen, aus mir unerklärlichen Gründen. Aufgrund dieser Eindrücke, fiel es mir jedoch recht schwer, erahnen zu können, wie sich ihre Mutter verhielt, sobald ich bei ihnen auftauchen würde. Selbst wenn sie Hilfe bei ihrer Arbeit brauchte, konnte sie dennoch ein grauenhafter Mensch sein. Würde ich überhaupt wieder nach Hause zurückkehren können, wenn mir dieser neue Ort nicht gefiel?

Für jeden anderen aus diesem Dorf würde solch eine Entscheidung mit Sicherheit nicht sehr schwer sein. Genau wie bei meiner Mutter war der wichtigste Faktor bei ihnen das Geld, welches durch diese Arbeit Zuhause ankommen würde. Doch ich wollte das nicht. Ich war glücklich mit dem, was wir hatten. Natürlich könnte unser Leben durchaus besser sein und daran hätte ich auch nichts auszusetzen. Es störte mich auch nichts daran, wie es im Augenblick war. Hier hatte ich meine Familie, meine Freunde und alles, womit ich aufgewachsen war. Und dennoch war es einzig und allein meine Entscheidung, die letztendlich darüber bestimmen würde, welche Form unser restliches Leben annahm.

Diese Gedanken gingen mir noch eine ganze Weile durch den Kopf. Wüteten darin herum, wie ein Wirbelsturm. Erst, als die goldgelben Strahlen der aufgehenden Sonne auf meine geschlossenen Augenlider fielen, bemerkte ich, dass ich wohl doch irgendwann eingeschlafen sein musste. Die Vögel, die im Normalfall bereits zu hören waren, bevor die Sonne überhaupt richtig aufgegangen war, waren in den letzten Tagen immer mehr verstummt. Ein allzu eindeutiges Zeichen dafür, dass der Winter langsam Einzug hielt.

Es war ein kurzes Klopfen zu hören und ich wunderte mich erst, woher dieses kam. Bis ich realisierte, dass das Geräusch innerhalb meines Zimmers erzeugt wurde und ich mich in die Richtung der Tür drehte, wo ich den Ursprung dafür vermutete. Diese wurde auch kurz darauf geöffnet. „Guten Morgen, Liebes. Ich werde jetzt zum Markt fahren.. lass dir diese einzigartige Möglichkeit bitte noch einmal durch den Kopf gehen." Bei der Beendigung ihrer Worte, warf mir meine Mutter noch ein leichtes Lächeln zu und verschwand wieder aus meinem Sichtfeld. Mich daran zu erinnern, dass ich über diese Chance nachdenken sollte, fand ich nun ein wenig übertrieben. Allerdings wusste sie nicht, dass ich bereits die halbe Nacht damit verbracht hatte, alle möglichen Sichtweisen dieses Angebotes zu betrachten.

Ich blieb noch eine Weile in meinem Bett liegen. Erst, als ich das Geräusch von Leno's Hufen mitsamt des Wagens auf den Steinen vor dem Haus hören konnte, beschloss ich, mich aus dem Bett zu quälen. An diesem Tag wäre es mir sogar lieber gewesen, einfach dort liegen zu bleiben. Dies war allerdings nicht möglich. Es gab Arbeiten in diesem Haus, die schon ein paar Tage auf der Strecke geblieben waren. Daher schlüpfte ich in meine Winterstiefel und zog mir meinen neuen Mantel über, damit ich in der Kälte außerhalb des Hauses nicht zu schnell zu frieren begann. Ich konnte noch sehen, wie meine Mutter mit unserem Hengst den Weg entlang bis zum Ende des Dorfes führte, doch dann wandte ich mich ab und schlug meinen eigenen Weg Richtung Stall ein.

Dort griff ich nach einem Korb und trat hinüber zu den Hühnern, wo ich ein paar der Maiskörner verteilte. Genau wie erwartet stürzten sich die Hühner direkt darauf und ich konnte in Ruhe nachsehen, ob sie ihre Arbeit getan und uns ein paar Eier hinterlassen hatten. Dies war jedoch nicht der Fall. Es gab Tage, an denen wenigstens die Hälfte von Ihnen genau das tat, wozu wir sie beschafft hatten. Es gab jedoch auch Tage wie diese, an denen sie uns nichts hinterließen. Aufgrund dieser, hatte es meine Mutter bereits in Betracht gezogen, die Hühner zu verkaufen. Mit Hühnern, die keine Eier mehr legten, konnten wir nichts anfangen, so sagte sie es zumindest. Ich selbst war da jedoch einer anderen Meinung.

Wenn wir sie verkaufen würden, wusste ich ganz genau, was man ihnen antun würde. Das gefiel mir nicht. Diese Tiere selbst zu schlachten, kam bei uns nicht in Frage. Mein Vater hatte dies früher getan, doch selbst meine Mutter war dazu dann doch zu weich in ihrem Inneren. Weshalb es für uns nur die Möglichkeit gab, die Hühner zu verkaufen oder sie bis an ihr Lebensende weiter zu füttern, obwohl wir uns dies auf Dauer nicht würden leisten können, wenn wir an ihnen nichts mehr verdienten.

„Wie ich sehe, bleibst du den heutigen Tag Zuhause." Erklang eine Stimme direkt hinter mir und ich hätte um ein Haar den Korb in meinen Händen fallen gelassen. Ich konnte die vielen Körner bereits meterweit auf dem Boden verteilt sehen. „Hatte ich nicht erwähnt, dass du dich nicht so an mich heranschleichen sollst?" Als ich jedoch sein so unschuldig wirkendes Gesicht erblickte, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen.

„Das hast du. Ich wollte mich lediglich nicht daran halten." Konterte der blonde junge Mann und deutete dann auf den Korb in meiner Hand. „Kann ich dir ein wenig zur Hand gehen?" fragte er mich und ich blickte ihm einen Moment etwas unsicher entgegen. Jurian schien diesen Blick direkt durchschaut zu haben. „Hör auf damit, Cami. Wir kennen uns bereits, seitdem wir auf dieser Welt sind. Gib mir den Korb und lass mich dir helfen." Er wusste ganz genau, weshalb ich mich so verhielt. Er kannte meine Eltern. Ich hatte lediglich ihre Sichtweise übernommen, was das Annehmen von Hilfe betraf. Selbst jetzt, obwohl ich es besser wusste, konnte ich diese Skepsis nicht immer sofort abschütteln.

Also übergab ich ihm den Korb und er setzte meine Arbeit fort. „Gibt es bei euch nicht schon genug zu tun? Du musst wirklich nicht jeden Tag herkommen und mir bei der Arbeit helfen." Versuchte ich ihm auf eine möglichst freundliche Weise zu erklären, woraufhin er jedoch mit den Schultern zuckte. „Zuhause gibt es mehr als genug arbeitsfähige Hände. Du bist alleine und ich helfe dir wirklich gerne." Meinte er und drehte sich schließlich zu mir um. Das braun in seinen Augen wirkte im Schatten des Stalles nur noch dunkler. „Deine Mutter wird ebenfalls etwas Hilfe benötigen, sobald du abgereist bist und das ist in Ordnung. Mach dir darüber keine Gedanken."

Doch das tat ich. Denn er sprach damit genau einen der Punkte an, die mich dazu bewegen sollten, im Dorf zu bleiben, anstatt bei diesen Männern meine Chance zu ergreifen. Ich konnte meine Mutter nicht alleine zurücklassen, mit dem Wissen, dass sie es dadurch nur noch schwerer haben würde, mit allem zurecht zu kommen. Jurian wollte das ich gehe, dass hatte er mir deutlich zu verstehen gegeben. Doch es gab zu viele Dinge, die mich davon abhalten konnten. „Eure Felder bleiben den Winter über leer, nehme ich an?" Ich antwortete ihm lediglich mit einem kurzen Nicken. „Dann würde ich dir nun gerne etwas zeigen, wenn du mir diese Ehre erweist." Noch bevor ich schnell genug reagieren konnte, hatte Juri den Korb abgelegt, nach meiner Hand gegriffen und zog mich nun hinter sich her, in die kühle Luft außerhalb des Stalls.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt