Noch bevor die Sonne über dem Horizont erschienen war, schlug ich meine Augen auf und blickte in die noch dunkle Nacht neben mir, außerhalb der Fenster. Zu diesem Augenblick war es noch zu früh, um mich mit meiner täglichen Arbeit zu beschäftigten. Dennoch erhob ich mich nach nur wenigen Minuten und verließ mein kleines, ebenfalls recht baufälliges Zimmer. Mit versucht leisen Schritten tapste ich durch den Wohnbereich, schnappte mir meine dünne Strickjacke und warf mir diese über. Jeder normale Mensch würde mich womöglich für verrückt halten, da ich um diese Uhrzeit das Haus verließ.
Ich konnte das leise und regelmäßige Atmen meiner Mutter aus dem Nebenzimmer hören und verließ mit dem beruhigten Wissen, dass ich sie nicht geweckt hatte, das kleine Haus, in dem ich aufgewachsen war. Draußen empfing mich die noch kühle Nachtluft und ich zog die Strickjacke ein wenig enger um mich. Bald würden die Nächte wieder länger und die Tage kälter werden. Der Winter war für viele von uns eine schwierige Zeit. Schon oft hatte ich von anderen Familien gehört, die es in dieser Zeit nicht geschafft hatten, jedes Familienmitglied zu ernähren. Besonders in den letzten Jahren wurde der Kampf gegen den Tod immer härter.
Mit nackten Füßen trat ich über den grobsteinigen Weg vor dem Haus, hörte dabei das leise Rascheln der Blätter, in den wenigen Bäumen um uns herum. Auch in den anderen Häusern, die sich ebenfalls in diesem kleinen Dorf befanden, brannte bisher kein Licht. Um mich herum war es dunkel und totenstill. Mein Weg führte mich jedoch weiter, bis zu einem etwas abseits gelegenen Baum, an dem mein Vater eine Schaukel angebracht hatte, als ich noch einige Jahre jünger war. Diese Schaukel, die im Laufe der Jahre ein wenig morsch geworden war, stand nun jedem Kind in diesem Dorf zur Verfügung, welches hier aufwuchs. So wie es einst auch bei mir der Fall gewesen war.
Sobald ich an diesem Baum ankam, ließ ich mich auf der Schaukel nieder und ließ dieses Gefühl einen Augenblick auf mich wirken. Jedes Mal wenn ich hier saß, erinnerte es mich an die Zeit, die ich gemeinsam mit meinem Vater verbracht hatte. An all die glücklichen Momente, die ich mit ihm erleben durfte. Abgesehen von unserem Haus und dieser Schaukel war uns nichts von ihm geblieben. Nicht jeden Tag, doch immer dann, wenn ich die Zeit dazu fand, setzte ich mich hierher und ließ die Erinnerungen an ihn wieder auflodern.
Direkt vor mir, am Horizont über den Wiesen und Hügeln, begann sich der Himmel bereits ein wenig heller zu verfärben. Nach wenigen Minuten erstrahlte dieses hellere blau in einem leichten Goldton und es dauerte nicht lange, bis das gesamte Dorf in den goldenen Schein der aufgehenden Sonne getaucht wurde. Es war einer dieser Momente, in denen mir wieder bewusst wurde, wie schön es gewesen war, hier aufzuwachsen. Dieses kleine Dorf war der Ort, an dem ich geboren, sowie mein bisheriges Leben gelebt hatte und in diesem goldenen Schein der Sonne, nahm es wieder seine so schimmernde Gestalt von damals an. Als hätte sich seither nichts verändert.
Doch ich wusste auch, dass dieses Dorf hier nicht alles war, was das Leben für mich bereithielt. Bereits einige Male, besonders in meiner Kindheit, hatte ich meine Mutter auf den Markt begleitet. Diese kleinen Reisen hatten mir gezeigt, dass es auch noch ein Leben außerhalb dieser Hügel und Berge gab, die unser Dorf umgaben. Ein Leben außerhalb dieser Mauern, welches ich seit dem Tod meines Vaters nur sehr selten zu Gesicht bekommen hatte. Selbst die Menschen, die in den Häusern am Markt lebten, umgeben von all den Bäckereien, Schmieden und sonstigen Arbeitern, denen wir für ihre Arbeit unglaublich dankbar waren, führten ein besseres Leben als wir hier draußen. Weit entfernt von all dem und dennoch nah genug, um von Allem zu erfahren, was sich außerhalb dieser unsichtbaren Mauern befand.
Wir lebten in einer Monarchie, das hatte mir mein Vater erklärt, als ich alt genug war, um all dies zu verstehen. Obwohl es eine Königsfamilie gab und ich das Schloss auch bereits von Weitem gesehen hatte, blieben die großen Tore dort stets verschlossen. Nicht einmal meine Mutter hatte bei den unzähligen Tagen auf dem Markt, diese Familie jemals zu Gesicht bekommen. Schon oft hatte ich Gerüchte vernommen, dass der König ein wahrer Tyrann sei. Dass aus genau diesem Grund, niemals jemand diese Familie gesehen hatte. Er hatte ihnen den Ausgang verwehrt.
„Ist es nicht ein wenig früh, um in die Welt der Gedanken abzuschweifen?" Ich zuckte bei dem plötzlichen Erklingen dieser Stimme zusammen und wurde schlagartig aus meinen Gedanken gerissen. Dass jemand nähergekommen war, hatte ich trotz der Stille um mich herum, nicht einmal ansatzweise wahrgenommen. Dennoch hätte ich es mir denken können. Mit einem langsam auftretenden Lächeln auf meinen Lippen, drehte ich mich zu dem Übeltäter um und meine Vermutung bestätigte sich. „Du hast mich fast zu Tode erschreckt, Juri." Der fast gleichaltrige, blonde, junge Mann, der sich so heimlich an mich heran geschlichen hatte, konnte sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen.
„Mit Freuden gerne, Cami. Eigentlich wollte ich nach den Hühnern sehen, doch dann sah ich dich hier sitzen. Ist alles in Ordnung?" Er trat an der Schaukel vorbei und lehnte sich dann an den Baum direkt daneben. So fiel es mir um Einiges leichter, zu ihm zu sehen, anstatt mich dabei umdrehen zu müssen. „Ich beobachte den Sonnenaufgang so gerne, das weißt du doch." Gab ich als Antwort von mir, ohne dabei auf die wirkliche Frage einzugehen. „Er fehlt uns ebenso sehr wie dir. Für jeden von uns war er wie ein zweiter Vater." Jurian und ich waren die einzigen Jüngeren, die bereits in das Leben der Erwachsenen übergingen. Seine Geschwister hingegen, waren noch zu jung, um dieses Leben richtig zu verstehen. Meinen Vater hatten sie dennoch kennenlernen dürfen, wenn auch nur für eine kurze Zeit.
Als das Unglück auch unser Dorf vor vielen Jahren erreichte, schafften es leider nur wenige unbeschadet wieder heraus. Jurian, zwei seiner damaligen Geschwister und ich, waren die einzigen Kinder, die diese Zeit überlebt hatten. Das gesamte Dorf hatte um diesen Verlust getrauert, doch im Laufe der letzten Jahre hatten wir begonnen, unser Leben wieder normal weiterzuführen. Ein plötzliches und zugleich recht schräges Krähen eines Hahns durchriss die angenehme Stille um uns herum und ich erhob mich von meinem Platz auf der Schaukel. „Ich sollte mich wohl auch meiner Arbeit zuwenden." Meinte ich und Juri nickte mir bestätigend zu.
„Fährt deine Mutter heute wieder zum Markt?" fragte er mich, während wir unseren Weg zurück ins Innere des Dorfes antraten. Das Haus, in dem Jurian mit seiner Familie lebte, befand sich am weitesten von dort entfernt, stand jedoch näher an dieser besonderen Schaukel, als alle anderen. „Das wird sie. Diesmal werde ich allerdings mitgehen." Der blonde junge Mann hob verwundert eine Augenbraue. „Du hast vor, mich in dieser Einöde alleine zu lassen? Du solltest dich wirklich schämen." Mir entwich ein kurzes Lachen. Wenn man es auf diese Weise betrachtete, hatte er sogar recht. „Ich werde wiederkommen. Spätestens heute Abend wirst du mich freudestrahlend auf Leno's Rücken zurück galoppieren sehen."
„Das ist eine recht sonderbare Vorstellung, Cami. Doch enttäusche mich nicht." Warnte er mich mit einem Schmunzeln vor, winkte mir kurz zu und bog schließlich in den Weg ein, der zu den kleinen Stallungen seines Heims führten. Mein eigener Weg führte mich weiter zu meinem Zuhause, wo ich bereits von Weitem meine Mutter erkennen konnte, wie sie frohen Gemüts den Hengst aus dem Stall holte und begann, diesen vor unseren Wagen zu spannen. „Guten Morgen, Liebes. Du solltest dich wirklich bemühen, etwas länger im Haus zu bleiben. Sonst muss ich mir noch Sorgen machen, dass du eines Tages plötzlich verschwindest und nie wieder zurückkommst."
Es sollte wohl als ein Scherz gemeint sein, dennoch hatte ich den ernsteren Unterton in ihrer Stimme wahrgenommen. Sie hegte wohl die selbe Angst wie ich, eines Tages plötzlich alleine mit alldem zurechtkommen zu müssen. In einem Leben, welches wir auf diese Weise nicht gewollt hatten. Ohne auf dieses Thema einzugehen, griff ich nach einem Korb in der kleinen Kammer und lief zum Stall der Hühner, wo ich einige dieser darin enthaltenen Mais-Körner verteilte. Derweil begann meine Mutter, den Wagen mit unserer letzten Ernte zu beladen. So wie sie es bereits am vorigen Tag getan hatte und es womöglich auch noch in den nächsten Tagen tun würde.
Nachdem meine Arbeit erledigt war und die Hühner vollends zufrieden vor sich her pickten, trat ich wieder nach draußen und half meiner Mutter dabei, die letzten Körbe auf den Wagen zu heben. Die typische Hausarbeit, welche ich im Normalfall erledigte während meine Mutter unterwegs war, musste an diesem Tag wohl stillstehen. Der blaue Himmel über uns schien einen uns freundlich gesonnenen Tag zu bringen. Wir konnten nur hoffen, dass während unserer Abwesenheit kein Sturm aufzog und unser kleines Dorf in Schutt und Asche zerlegte. Die Wahrscheinlichkeit dafür stand jedoch sehr gering.
Sobald alles verladen war, machten wir uns zusammen mit Leno, angespannt an dem vollen Wagen, auf die Reise über die angrenzenden Hügel. In die Richtung des Lebens, welches dem Unseren in kaum einer Weise ähnelte. Noch war es früher Morgen. Doch bis wir auf dem Markt ankommen würden, sollten noch ein paar Stunden vergehen. Von allen Menschen, die dort auf dem Markt ihre Ware verkauften, hatten wir den weitesten Weg vor uns. So hatte es mir meine Mutter beschrieben, als ich das erste Mal diese kleine Reise mit ihr angetreten war. Doch auch dies war nun schon einige Jahre her.
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Die Zofe
Fiksi RemajaIn einer Welt einige Jahre vor unserer Zeit, im alten Mittelalter, kämpft ein Mädchen gegen ihr Schicksal. Dazu bestimmt, den Rest Ihres Lebens gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Land zu verbringen und von dem wenigen Geld zu leben, welches sie auf...