Unzählige Welten

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Ich merkte bereits am frühen Morgen, dass sich etwas verändert hatte. Die Stille, welche die Gänge und Räume normalerweise einzuhüllen schien, hatte einem durchgehenden Hintergrundgeräusch Platz gemacht, welches ich nicht genau definieren konnte. Noch während ich in meinem einfachen Bett im Schlafsaal lag, konnte ich die Schritte außerhalb des Raumes vernehmen, bis ich feststellte, dass ich als einzige Zofe noch in diesem Raum war. Außerhalb der mit leichten Vorhängen verkleideten Fenster, war es noch stockduster, kein einziger Sonnenstrahl war zu sehen, demnach musste es noch sehr früh am Morgen sein. Warum waren sie alle bereits wach?

Obwohl ich nicht verstand was hier vor sich ging, erhob ich mich hastig aus dem Bett, warf mir das schwarze Kleid über, welches für uns als Zofen üblich war und lief in das provisorische Bad, um meine Haare zu richten. Warum hatten die anderen Mädchen mich nicht geweckt? Ich schlüpfte in meine halbhohen ebenfalls schwarzen Schuhe und verließ wenige Sekunden später den Schlafsaal. Schließlich erkannte ich, was der Ursprung dieser unterschiedlichen, unklaren Geräusche war.

Vor meinen Augen zeigte sich ein Bild, welches ich an diesem Ort zuvor nicht gesehen hatte. In den Gängen liefen zahlreiche Menschen umher. Einen Großteil von ihnen hatte ich bisher kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Sie trugen Vasen, Teller und sonstigen Kram herum, was mir jedoch nicht dabei half, zu verstehen, was hier vor sich ging. Es dauerte einen Moment, bis ich Thekla entdeckte, die mir mit einem Eimer gefüllt mit Wasser entgegenkam. Sie nahm mich erst wahr, als ich mit einer Hand nach ihrem Arm griff und sie so zum Anhalten brachte.

„..Camilla? Meine Güte.." Sie wirkte gestresst, dass erkannte ich an dem unruhigen Blick in den Augen und der Starrheit, mit der sie an mir vorbeigelaufen wäre, hätte ich sie nicht zum Stehenbleiben gebracht. „Kannst du mir erklären, was hier los ist? Warum habt ihr mich nicht geweckt?" fragte ich sie, während ihr Blick weiterhin ruhelos umherirrte. Was geschah hier? „Verzeih uns bitte, die Rückkehr des Königs wurde soeben angekündigt. Diese Tageszeit ist für ihn allerdings nicht üblich. Wir waren nicht darauf vorbereitet." Erklärte sie mir schnell und zog mich im nächsten Moment auch schon hinter sich her den Gang entlang.

Sowohl die anderen Gänge als auch die Eingangshalle waren plötzlich gefüllt von Menschen und das Umherirren dieser, wirkte wie ein regelrechter Bienenschwarm. Dinge wurden umhergetragen, es wurde dekoriert und geputzt. Dies würde zumal auch erklären, weshalb Thekla diesen Eimer voller Wasser mit sich herumtrug. Zu Wissen, dass der König in kürzester Zeit hier eintreffen würde, ließ mich nervös werden. Das Chaos welches sich vor meinen Augen bot, sorgte nicht unbedingt dafür, dass ich mich in Ruhe auf dieses Zusammentreffen vorbereiten konnte. Im Gegenteil, mein Puls stieg rasant und nun verstand ich auch, weshalb alle ihre Arbeit so schnell wie möglich erledigen wollten. Sie waren ebenso unruhig wie Thekla, was sich automatisch auch auf mich übertrug.

Thekla war bereits wieder in der Menge und somit aus meinem Blickfeld verschwunden, weshalb es mir nicht gelang, nachzufragen, welche Aufgabe ich nun übernehmen sollte. Nur wenige Sekunden später wurde mir jedoch bewusst, dass dies nicht notwendig gewesen wäre. Als würde es eine Ankündigung für seine Ankunft bedeuten, war von außerhalb des Schlosses das Wiehern eines Pferdes zu vernehmen. Die Ställe lagen in einer anderen Richtung, das wusste ich bereits. Ich war zudem nicht die Einzige, die dieses Wiehern gehört haben musste, da sich die Menschen um mich herum regelrecht blitzschnell auflösten und in verschiedene Richtungen in den Gängen verschwanden.

Lediglich die Zofen, unter anderem Amalia, Thekla und Layana blieben in der Eingangshalle und deuteten mir mit einem kurzen Winken an, zu ihnen zu kommen. Mit schnellen Schritten war ich bei ihnen und fügte mich in die Reihe ein, die sie in Richtung des Eingangstores gebildet hatten. So wie wir dort standen, darauf wartend, dass das Tor sich öffnete und sich mir eine unbekannte Person näherte, erinnerte mich dies an die Worte meines Vaters, die er mir wenige Tage vor seinem tragischen Tod entgegengebracht hatte.

„Es gibt nacheinander und nebeneinander unzählig viele Welten."

Diese Worten waren gut vergleichbar mit meiner aktuellen Situation. Unsere Monarchie war durch ein simples Kastensystem geregelt. Es gab die Armen, die Wohlbekommenen und das Königshaus. Unterschiedliche Welten die nacheinander aufgereiht und zusammengesetzt wurden. Aus jenen Kasten zu entkommen und in eine andere zu wechseln, geschah nur sehr selten und verbarg unter Umständen zahlreiche Verluste. Dass diese unterschiedlichen Welten auch nebeneinander existierten, nahm ich besonders in diesem Augenblick war, als ich mit den anderen Zofen in einer Reihe stand. Jede einzelne von uns, hatte ihre eigene Lebensgeschichte.

Ich verstrickte mich in dieser Aufstellung so sehr in Gedanken, dass ich nicht einmal mitbekam, wie sich mir eine Person näherte und mit wenigen Schritten Abstand vor mir stehen blieb. „Wer ist das?" hörte ich eine recht tiefe Stimme durch die gesamte Eingangshalle schallen, was mich augenblicklich aus meinen Gedanken riss. Mein eben noch abschweifender Blick richtete sich nun auf eine große, männliche Person vor mir, die mir mit einem ernsten Gesichtsausdruck entgegenblickte und mit einem eiskalten Blick förmlich bis in meine Seele blickte. Eine Gänsehaut überkam mich, noch bevor sich eine weitere Stimme meldete. „Das ist.." „Diese Frage war an deinen Bruder gerichtet." Warf der Mann vor mir sofort ein, als Phileas zu sprechen begonnen hatte.

Stille legte sich wieder über uns wie eine unsichtbare Hülle und für einen Augenblick traute sich wohl niemand etwas zu sagen. Es musste der König sein, da war ich mir sicher. Niemand sonst hätte solch eine Macht über die anwesenden Menschen in diesem Raum. „Das ist Camilla, Vater. Eine neue Bedienstete." Erklärte Kiyan schließlich. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die beiden Brüder ebenfalls anwesend waren. Ich hatte nicht mitbekommen, wie sie sich zu uns gesellt hatten. Für einen kurzen Moment warf mir der König noch einen skeptischen Blick zu, wandte sich dann jedoch von mir ab und trat zu seinen Söhnen, die sich in der Nähe der Treppe aufhielten, wie ich nun feststellte.

Die Gerüchte, die ich über den König gehört hatte, wiederholten sich wie in einer Dauerschleife in meinem Kopf. Bereits einige Male hatte ich zu hören bekommen, dass er ein grausamer Vater und ein noch tyrannischer König zu sein schien. Bei unserer jetzigen Begegnung konnte ich sogar ein wenig nachvollziehen, wie diese Gerüchte entstanden sein mochten. Im Vergleich zu seiner Frau, der Königin, schien er nicht einmal ansatzweise solch eine freundlichen Seite an sich zu haben. Sie hatte mich herzlich empfangen, obwohl sie nicht wusste, wer ich war. Der König hingegen, schien mir alles andere als wohlgesonnen zu sein.

„Sorge dafür, dass dieses Mädchen beim nächste Mal anständig gekleidet ist. Ich dachte, dies wäre dir bereits bekannt." Erwähnte er im Vorbeilaufen in Richtung von Phileas, würdigte seinen Söhnen daraufhin jedoch keinen Blick mehr und trat die Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Sein Söhne folgten ihm schweigend mit ein wenig Abstand. Erst als sie außer Sichtweite waren, traute ich mich wieder, richtig zu atmen. Ich hatte förmlich die Luft angehalten. Aufgrund seines Kommentars gegenüber Phileas blickte ich kurz an mir herunter und musste feststellen, dass ich durch all den Trubel der mich zu dieser frühe Stunde aus dem Bett gerissen hat, vergessen hatte, mir meine Schürze umzubinden.

Es war also kein Wunder, dass der König ausgerechnet auf mich zugekommen war und mich mit diesem skeptischen Blick betrachtet hatte. Unter all den anderen Zofen hatte ich durch die fehlende Schürze herausgestochen wie ein schwarzes Schaf. Dass sich der erste Eindruck beim König nun als solch einen Reinfall erwies, war nicht geplant gewesen. Nicht einmal Thekla hatte mich auf das Fehlen der Schürze aufmerksam gemacht. Sie war wohl selbst zu diesem Zeitpunkt in ihre eigenen Gedanken verstrickt.

Es würde schwierig werden, diesen Eindruck wieder auszugleichen. Denn wenn die Gerüchte über den König wirklich stimmten, war es kein gutes Zeichen, wenn man sich bereits zu Beginn entgegen seiner Vorschriften verhielt und sich ihm widersetzte. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt