Zeit zu sterben

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P.o.V. Kiyan

Dieser winzige Augenblick glich einer Ewigkeit. Mein Puls war soweit angestiegen, dass mir mein Herz beinahe bis zum Hals schlug. Doch nicht getrieben von Nervosität oder Angst. Nein. Mein Körper war bis zum Äußersten angespannt, aufgrund der bodenlosen Wut, die sich in mir angesammelt hatte. Ich würde Camilla keine Schuld geben. Es war mein eigener Verstand, der mich zu dem machte, was ich wahrhaftig war. Ein Monster. Im Licht der Eingangshalle waren ihre Wunden eindeutig zu erkennen gewesen und dieser Anblick musste dafür gesorgt haben, dass sich der gesunde Teil meines Verstandes von mir verabschiedet hatte.

Die regelrechte Trance, in die mich diese Wut befördert hatte, verschwand langsam, nachdem Camillas durchdringende, wenn auch verängstigt wirkende Stimme, erklungen war. Gerne hätte ich mich ihren Worten gefügt. Nein, hätte mich sogar von ihr beruhigen lassen können. Doch all dies war vergeblich, denn der Zeitpunkt, in dem dies noch möglich gewesen wäre, war bereits vergangen. Meine Hände umklammerten den dünnen Griff des Dolches mit solch einer Anspannung, dass die Knöchel meiner Hand weiß hervortraten.

Camillas plötzliches Auftauchen hatte zur Folge, dass sich mein Verstand wieder ein wenig klärte und ich meine Aufmerksamkeit genauer auf das richtete, was ich getan hatte. Seit mein Vater Camilla in die Untiefen der Wälder verbannt und ihr den Rang als Vogelfreie erteilt hatte, drehten sich meine Gedanken wie wild durcheinander. Es war das eine, eine ehemalige Bedienstete in Sicherheit zu bringen. Das andere jedoch, wenn es einem mentale Schmerzen bereitete, zusehen zu müssen, wie diese Bedienstete Qualen erleiden musste und dies auch in diesem Augenblick noch tat. Camilla wollte das Offensichtliche nicht aussprechen, doch ihre Augen sprachen für sich.

Ich spürte das Blut an meinen Händen, welches von dem Dolch umrandet wurde und nun auch meine Hände benetzte. Wäre es mir möglich, die Zeit zurückzudrehen, hätte ich es getan. Einzig und allein aus dem Grund, damit Camilla diesen Anblick nicht hätte ertragen müssen. Ich zog den Dolch nur langsam aus der Brust meines Vaters zurück und beobachtete gedankenversunken, wie das dunkle Blut daran gemächlich heruntertropfte. Meine Bewegungen fühlten sich stumpf an. So, als befände ich mich in einem Traum.

„Kiyan.." Bei der Aussprache meines Namens mit ihrer sonst so lieblichen Stimme, wandte ich meine Aufmerksamkeit von dem Dolch in meinen Händen ab und blickte stattdessen direkt zu Camilla. Ich hätte es erwarten müssen, doch es versetzte mir dennoch einen unangenehmen Stich, dass sie bei unserem entstehenden Blickkontakt einen Schritt zurückwich. Ich machte ihr Angst. Natürlich tat ich das. Ich hatte nicht beabsichtigt, dass sie dies mit ansehen würde. Womöglich hätte ich die Tür verschließen sollen. Meine Gedanken drifteten erneut in eine Welt ab, in der all dies noch nicht geschehen war und in der es mir möglich war, meinen erdachten Plan noch einmal zu korrigieren.

Ich nahm kaum war, dass Camillas zurückweichende Haltung lediglich von kurzer Dauer war. Die Art und Weise, wie sie mich angesehen hatte, fraß sich förmlich in die Tiefen meines Verstandes. Meine Hände lösten sich augenblicklich von dem mit Blut verschmierten Dolch, als sich zwei Arme um meinen Hals legten und ich eine direkte Berührung an meinem Körper wahrnahm. Ich hörte das Klirren des Dolches auf dem Boden des Raumes, woraufhin sich meine Sinne wieder ein wenig zu schärfen begannen. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was in den letzten Augenblicken geschehen war.

Camilla hatte mich in eine Umarmung gezogen und ich spürte ihr unruhig schlagendes Herz an meiner Brust. Nein, sie war nicht nervös. Sie hatte Angst. Dennoch war sie hier in meiner unmittelbaren Nähe. Da es nicht danach aussah, als würde Camilla sich kurzerhand wieder von mir lösen wollen, beschloss ich, ihre Umarmung zu erwidern. Erst zögerlich, da solche Berührungen je nach Situation nicht meine liebste Tätigkeit waren. Allerdings musste ich zugeben, dass ich mich in Bezug zu Camilla, durchaus daran gewöhnen konnte.

Je länger wir in dieser schweigenden Umarmung standen, desto stärker wurde der Druck meiner Arme um ihrem Körper, bis ich sie regelrecht an mich presste. Mein Verstand ließ mich mit Schweigen zurück und meine in Chaos getränkten Gedanken verstummten. Es kam nur äußerst selten vor, dass mein Verstand so plötzlich von Stille überflutet wurde. Nur ein einziges Mal hatte ich dies bisher erlebt. In der Nacht, als Camilla mich in meinem Schlafgemach angetroffen hatte und ich am Boden zerstört zusammengebrochen war. Auch dieses Mal schien sie der Grund zu sein, weshalb wieder Ruhe in mir einkehrte.

Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht genau sagen. Es wäre mir lieber gewesen, für den Rest meines Lebens in dieser Position zu verharren. Doch Camilla löste bereits wieder ihre Arme von meinem Hals, hielt allerdings ihren Blick zu mir hinauf gerichtet. Ihre braunen Augen, welche in dem dämmrigen Licht beinahe honigfarben schimmerten, schienen mich prüfend zu mustern. „Es tut mir leid, Camilla. Du hättest das nicht sehen sollen." versuchte ich eine Erklärung für meine Tat zu murmeln. „Mein Verstand hat mich überrumpelt, ich.."

Sie schüttelte leicht den Kopf, was mich verstummen ließ. Ihre Augen waren meinen so nah, dass ich die verschiedenen Brauntöne darin erkennen konnte. Ohne es wirklich wahrzunehmen, hob ich eine Hand um ihre eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, die mir den direkten Blick auf ihre Augen ein wenig erschwerte. „Du musst dich nicht rechtfertigen, Kiyan." Ihre Stimme war leise und die Angst darin war noch immer unverkennbar vorhanden. Doch sie schien langsam abzuklingen. Dies merkte ich daran, dass das Zittern ihrer Hände mit der Zeit versiegte.

„Im Licht der Eingangshalle konnte ich erst deutlich sehen, wie schlimm er dich zugerichtet hat." Gab ich weiter murmelnd von mir, während meine Arme noch immer um ihren Körper lagen und ich sie sanft an mich drückte. Sie hatte sich von mir lösen wollen, doch ich brachte es nicht über mein mickriges kleines Herz, dies zuzulassen. Zu groß war meine Angst, dass ich erneut meinen Verstand verlor und auch Camilla dabei verletzen würde. Dann war ich nicht sonderlich besser als mein Vater, zumal ich mir dies niemals würde verzeihen können.

„Es ist vorbei." Unterbrach sie mein erneutes Eintauchen in die Tiefen meiner Gedanken. Noch immer waren ihre Augen auf mich gerichtet und ich nahm an dass ich halluzinieren musste, als ich darin ein leichtes Aufflackern erkannte. Was auch immer es gewesen war, sie schien ihre Angst nun so weit abgelegt zu haben, dass auch ihr Puls ruhiger wurde. Dies spürte ich nur zu deutlich an ihrem Herzschlag an meiner Brust. Womöglich hatte ich ihr lediglich einen Schrecken eingejagt, dieser Gedanke erleichterte mein tonnenschweres Herz. Sie hatte keine Angst vor mir, sondern lediglich vor meinem Vater.

„Es ist vorbei." Wiederholte ich ihre Worte, um mir diese auch in Gedanken wieder und wieder zusprechen zu können. Die gesamte Vergangenheit von meinem Bruder und mir, würde nun ein Ende finden. Es brach ein neues Zeitalter an. Eine Zeit, in der die Tyrannei meines Vaters nicht mehr präsent sein würde. Doch darüber machte ich mir in diesem Augenblick keine weiteren Gedanken. Da Phileas in diesem Augenblick in den Raum gestürmt kam und, ebenso wie Camilla zuvor, wie zur Salzsäule erstarrt, in der Nähe der Tür stehen blieb.

„Was hast du ihm angetan?!" Phileas fassungslose Stimme schallte durch den Raum und seine aufsteigende Trauer über seinen, durch meine Hände ermordeten Vater, schwang mehr als deutlich darin mit. Diese Trauer in seiner Stimme war es, die mich letztendlich doch dazu brachte, dass ich mich von Camilla löste und mich auf meinen Bruder zubewegte. Sein Blick war regelrecht hasserfüllt auf mich gerichtet und ich konnte die Tränen sehen, die sich in seinen Augen bildeten.

Ich war gerade noch rechtzeitig bei ihm, ehe er sich wieder in Bewegung setzen und sich unserem Vater nähern konnte. Genau wie Camilla, hätte auch er dies nicht mit ansehen sollen. Daher musste ich nun verhindern, dass er die Gesamtheit meiner Tat auch noch aus der Nähe betrachtete. Ich legte meine Hände an seine Schultern und schob ihn auf diese Weise wieder einige Schritte rückwärts. Mein Bruder hatte von einem Großteil der grauenvollen Taten unseres Vaters noch nie erfahren, daher war es durchaus verständlich, dass seine Trauer um ihn, um einiges größer war, als bei mir.

Schluchzen begann Phileas Körper zu erschüttern, als er sich schließlich breitwillig von dem Totenbett unseres Vaters fortführen ließ. Nur zu gerne hätte ich Camilla wieder in meiner Nähe gehabt, doch auch sie war nur unverhofft in diesen Augenblick hineingeraten. Da mein Bruder trotz unserer schmerzvollen Vergangenheit an der Seite unseres Vaters in Tränen ausgebrochen war, musste ich die nächsten Minuten mit ihm alleine sein. Camilla würde dies durchaus verstehen, obwohl ich ihren sorgenvollen Blick förmlich auf meinem Rücken spüren konnte, als ich mit Phileas den Raum verließ. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt