Orientierung

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Es war kalt. Eiskalt. Als ich nach einer Weile wieder zu mir kam und die Augen öffnete, stellte ich fest, dass es bereits später Abend sein musste. Der Wald war in ein schummriges Schwarz getaucht und erzeugte ein Gefühl von Unbehagen in meiner Brust. Ich hob meine Hand und berührte vorsichtig mit den Fingern die Stelle an meinem Kopf, an der mich laut meiner Erinnerung etwas Spitzes und zugleich Hartes getroffen haben musste. Meine Vermutung lag richtig. Sobald meine Finger diese Stelle an meinem Kopf berührten, zog ich diese sofort mit einem leisen Zischen zurück. Ich blutete, wie ich nur einen Augenblick später anhand der dunkeln Verfärbung meiner Finger, erkennen konnte.

Langsam versuchte ich mich aufzusetzen, um mir einen genaueren Überblick darüber zu verschaffen, was eigentlich passiert war. Nun fiel mir auch auf, weshalb mir so unglaublich kalt war. Mein Mantel war weg. So bemüht ich mich auch umblickte, ich konnte ihn nicht entdecken. Stattdessen sah ich jedoch den Übeltäter, der wohl für diese Wunde an meinem Kopf verantwortlich gewesen sein musste. Ein kantig geformter Stein mittlerer Größe, der an einer Seite ebenfalls eine dunkle Verfärbung aufwies. Er lag nur wenige Meter neben mir, weshalb ich ihn in der zunehmend dunkler werdenden Umgebung gerade so hatte ausfindig machen können.

Während ich mit zittrigen Hände aufzustehen versuchte, kam mir jedoch noch etwas anderes in den Sinn, was mir direkt als erstes hätte auffallen müssen. Nicht nur mein Mantel war weg, der mich zu dieser Zeit noch ein wenig vor der Kälte hatte schützen können. Auch von Leno war keine Spur zu sehen. Weder wo er war, noch, in welche Richtung er möglicherweise verschwunden sein konnte. Ich war allein. Vollkommen allein in diesem dunkeln Wald, ohne genau zu wissen, in welcher Richtung der nächste Ausgang lag. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und brauchte einen Moment um zu realisieren, dass ich absolut keine Ahnung hatte, was ich nun tun sollte.

Ich hatte solche Wälder noch nie sonderlich gemocht, besonders nicht in der Nacht. Sie waren unheimlich. Das Letzte woran ich mich erinnern konnte, waren diese zwei Gestalten gewesen, die auf mich zugekommen waren. Weshalb mein nächster Gedanke sich auf etwas bezog, was mir noch deutlich mehr Schwierigkeiten bereiten könnte. Ich blickte an mir herunter, zu dem einfachen Leinenstoff meines Kleides und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass auch der kleine Beutel verschwunden war, in dem ich das wenige Geld aufbewahrt und mitgenommen hatte.

Wenn ich alle Fakten meiner jetzigen Situation zusammenzählte, war ich demnach einem Raub zum Opfer gefallen. Etwas, was ich im Augenblick definitiv nicht gebrauchen konnte. Noch ein letztes Mal blickte in angestrengt in den Wald um mich herum, in der Hoffnung Leno doch noch irgendwo entdecken zu können. Doch er blieb verschwunden. Mit langsam in mir aufsteigenden Tränen, setzte ich einen Fuß vor den anderen und bahnte mir so nun selbst einen Weg durch diesen Wald. Wenn ich hier blieb und auf ein Wunder hoffte, würde ich nur erfrieren. Ich musste hier raus und nach einem Ort suchen, an dem ich mich wenigstens für die Nacht aufwärmen konnte.

Durch meinen Sturz hatte ich jedes Gefühl von Orientierung verloren, weshalb ich nun blindlinks in irgendeine Richtung stolperte. Die Chance, dass ich das Dorf wiederfand, durch welches ich hindurchgeritten war, stand ziemlich schlecht. Dafür hatte ich mich schon viel zu weit von dort entfernt. Dennoch lief ich weiter, während ich meine Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Ich hatte gehofft, dass das Pech mich verlassen würde, sobald mein altes Zuhause hinter mir lag. Doch es ließ mich auch hier in dieser Einöde nicht alleine.

Möglicherweise bereute ich mein Verschwinden sogar, denn wenn ich nur einen einzigen Tag länger in meinem Heimatdorf geblieben wäre, hätte es diesen Raub wohl nie gegeben. Ich hätte mir einen anderen Plan überlegen können, wie ich mit allem hätte zurechtkommen können. Doch nun war ich hier, inmitten dieses gruseligen Waldes und tappte wortwörtlich im Dunkeln. Ich lief langsam, damit ich nicht plötzlich über einen der Äste stolperte, die den Weg vor mir überwucherten. Der Schmerz in meinem Kopf war nun nicht mehr so stark, es dröhnte dennoch wie ein Pochen in meinem Schädel und behinderte dadurch ein wenig meine Sinne.

Mit einem benommenem Blick und zittrigen Beinen stolperte ich regelrecht diesen Weg entlang, der sich nur unscharf in dieser Dunkelheit vor mir ausmachen ließ. In diesem Augenblick war mir egal, wohin mich meine Beine trugen oder ob ich überhaupt in die richtige Richtung lief. Ich wusste nur, dass ich schnellstmöglich hier herauskommen musste. In solch einem tiefen Wald war es nicht unüblich, dass wilde Tiere einem den Weg versperrten und unangekündigt auftauchten.

Weit kam ich trotz meiner Bemühungen nicht, als ich plötzlich wieder dieses Flüstern vernehmen konnte. Es hörte sich fast genauso an, wie das Flüstern, welches ich erst als Nebengeräusch des Windes betrachtet hatte, kurz bevor mich dieser Stein am Kopf traf. Sofort blieb ich wie angewurzelt stehen und versuchte mich mit all meinen Sinnen auf dieses Flüstern zu konzentrieren. Es waren tiefe Stimmen und sie kamen aus der Richtung des Weges, den ich als meinen Ausgang ausgewählt hatte. Meine Erinnerungen an dieses Flüstern waren noch sehr neu, weshalb es mich unweigerlich an diese beiden in schwarz gekleideten Personen erinnerte, die mich zuvor ausgeraubt haben mussten.

Mit etwas Glück irrte ich mich und es waren freundlich gesinnte Menschen, die mir möglicherweise helfen konnten, einen schnellen Weg hier raus zu finden. Die Vernunft in mir siegte jedoch, denn einen weiteren Überfall dieser Art wollte ich nur ungerne riskieren. Weshalb mein Körper auf eine Weise reagierte, die ich nicht ganz so geplant hatte aber im Nachhinein für eine recht schlaue Entscheidung halten würde. Denn im nächsten Augenblick setzte ich mich wieder in Bewegung. Diesmal mit schnelleren Schritten und mit dem Wissen, den Weg hinaus nur noch mehr aus den Augen zu verlieren. Ohne es zu bemerken, trugen mich meine Beine nur noch tiefer in diesen dunklen Wald hinein.

Meine Flucht blieb nicht unbemerkt. Aufgrund des vielen Gehölz auf dem Waldboden, war es ziemlich mühsam, lautlos und in einem schnellen Tempo vor diesem Flüstern zu fliehen. Möglicherweise spielte mir mein Geist auch nur einen Streich und dieses Flüstern war diesmal wirklich nur ein simples Geräusch, welches durch die Bewegung der Blätter im Wind entstand. Sicher konnte ich mir dabei allerdings nicht sein. Obwohl ich ein wenig Vorsprung hatte, hörte ich mit jeder weiteren Sekunde, wie die Schritte hinter mir näherkamen. Nur langsam, als hätte das Flüstern selbst Probleme damit, einen Weg durch diesen Wald zu finden.

„Nun warte doch!" Das Flüstern hatte sich in ein Rufen verwandelt und trotz des lauten Knackens unter meinen Stiefeln, während ich mir meinen Weg durch das Geäst suchte, konnte ich jedes einzelne Wort verstehen. In dieser einen Sekunde beschleunigte sich mein Puls schlagartig, da mir dieser Ruf nun bestätigte, dass sich wirklich eine lebende Person hinter mir befand. Dass diese Person mir gegenüber freundlich gesinnt war, stellte ich aus diesem Grund selbstverständlich in Frage.

Also lief ich weiter, wobei sich wieder Tränen in meinen Augen sammelten und begannen, mir meine Sicht nur noch mehr zu erschweren. Ich hatte Angst. Der Ruf hatte seinen Ursprung bei einem Mann und ich würde sicherlich Bestätigung dafür bekommen, wenn ich es vorzog, mich nicht einfach auf seine Worte zu verlassen und meine Flucht abzubrechen. Umso länger dieser Ruf jedoch in diesem Wald verklang, desto bewusster wurde mir, dass ich diese Stimme bereits kannte. Mein benommenes Denken brauchte  eine Weile, um diese genauer zuordnen zu können.

„Phileas?" Ich hauchte diese Worte nur leise, doch drehte meinen Kopf fast wie automatisch in die Richtung, in der in ihn vermutete. Die Schritte die von dort zu hören waren, wurden nicht langsamer und dadurch leiser. Sie schienen sogar nur noch lauter zu werden. "..Nun bleib doch stehen!" Diesmal irrte ich mich sicherlich nicht. Diese Stimme kam eindeutig von Phileas und ich war mir sicher, dass er mir helfen konnte. Genau in dem Moment, als mich eine kleine Welle der Erleichterung erfasste und ich meine Beine zum Anhalten bringen wollte, verlor ich gefolgt von einem leisen Aufschrei, wortwörtlich den Boden unter meinen Füßen.

All dies geschah in einem winzigen Augenblick, der sich aus meiner Sicht wie eine Ewigkeit anfühlte. Nur einen Sekundenbruchteil später, landete ich unsanft auf der Schräge eines Abhangs und rollte Meter um Meter hinab in die Tiefe. Bereits nach kurzer Zeit verlor ich erneut die Orientierung, während ich wieder und wieder das Geäst unter mir zerbrechen hören konnte. Schließlich kam ich mit einem dumpfen Schlag an einem etwas breiteren Baum zum Stillstand. Noch bevor ich die Möglichkeit bekam, mich neu zu orientieren, zog sich die Dunkelheit wie ein Schleier über mich und empfing mich, genau wie zuvor, in ihrer traumlosen Welt der Bewusstlosigkeit.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt