„Ich habe mir bereits gedacht, dass diese Gerüchte nicht grundlegend falsch sein würden. Warum hat er das getan? Sie war eure Schwester, sein eigenes Fleisch und Blut." Phileas nickte daraufhin nur langsam. „Seiner Ansicht nach, ist dies nicht korrekt. Für ihn war sie nie ein Teil dieser Familie." Ich runzelte die Stirn. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Selbst wenn er wirklich solch ein grausamer Tyrann war, war es für mich unverständlich, wie er sein eigenes Kind nicht akzeptieren konnte. Kiyan und Phileas waren schließlich auch noch hier.
„Othilia war nicht wie wir. Sie ähnelte uns nicht." Begann er zu erklären, wobei sich ein trauriger Schleier über sein Gesicht zog. „Sie hat immer gelacht. Ein wahrer Sonnenschein, wie Mutter immer sagte. Auch an den traurigsten Tagen hat sie uns ein Lächeln ins Gesicht gezaubert." Nun legte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, als er an diesen Moment zurückdachte. „Das ist kein Grund ihr das Leben zu nehmen.." entgegnete ich, was Phileas jedoch mit einem Schulterzucken quittierte.
„Nicht gänzlich." Sein Blick richtete sich wieder auf Camilla, welche noch immer schlafend neben uns lag und von diesem Gespräch nichts mitzubekommen schien. „Wie dir womöglich aufgefallen ist, hat jeder einzelne in unserer Familie dunkle Haare. So war es auch in den Familien zuvor immer der Fall. Thia hingegen war blond. Sie leuchtete förmlich wie eine Sonne in der Dunkelheit innerhalb dieser Mauern. Vater hat sie dafür verabscheut. Laut ihm, wäre sie kein rechtmäßiger Teil dieser Familie. Er war davon überzeugt, dass Mutter ihn mit einem der Bediensteten hintergangen hatte. Diese Überzeugung hat er noch heute. Unsere Familie sollte nicht verunreinigt werden, also hat er Thia verschwinden lassen."
Ich war schockiert über diesen Grund seines Handelns. Der König war wahrlich ein Monster, daran hatte ich keine Zweifel. „Und trotz allem lebt ihr weiterhin hier mit ihm zusammen. Warum? Ihr hättet ihn sicherlich aufhalten können." Phileas schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie soeben erwähnt, fand Kiyan erst danach heraus, dass es Vaters Verschulden war. Wir wussten bereits, dass er sie nie mit dem gleichen Wert betrachtet hatte wie uns, doch niemand hätte vermuten können, dass er solch eine grausame Tat umsetzen würde."
Es war wahrlich grausam. Ich erinnerte mich nur zu gut daran, wie ich einen Teil meiner Geschwister verloren hatte und konnte daher gut nachvollziehen, wie sich die Brüder in diesem Moment gefühlt haben mussten. „In der Zelle, neben der Meinen, in die Kiyan mich hatte sperren lassen, befand sich ein alter Teddybär.. War sie dort? Othilia meine ich." Daraufhin nickte Phileas. „Dort habe ich sie gefunden. Diese Teddybären sind von mir und meinem Bruder. Thia hat sie von uns an dem Tag ihrer Geburt bekommen." Die Tränen in Phileas' Augen waren verschwunden, doch sein Gesichtsausdruck zeigte noch immer deutlich die Erschütterung über diesen Verlust.
„Dort war nur einer dieser Bären, Phileas. Wo ist der andere?" Er bestätigte mir dies mit einem zögernden Nicken. Womöglich war er selbst lange nicht mehr dort unten gewesen. „Der Teddybär in dieser Zelle, ist von mir. Er sollte uns daran erinnern, dass unsere Schwester auch weiterhin an unserer Seite sein würde. Vater würde uns diese Erinnerung an sie nicht nehmen können. Kiyan hat seinen hingegen für sich behalten. Ich bin mir nicht sicher, was er mit diesem gemacht hat, entsorgt hat er ihn jedenfalls nicht."
Sie waren keine schlechten Menschen, auch wenn die Dinge, die ich bisher über sie gehört hatte, etwas gänzlich anderes sagten. Nun verstand ich, warum Camilla keinen Grund gesehen hatte, von hier zu verschwinden. Auch wenn es zu Beginn so gewirkt hatte, waren sowohl Phileas als auch Kiyan durchaus in der Lage, Empathie zu empfinden. Sie waren keine herzlosen Wesen, die dem Willen ihres Vaters augenblicklich Folge leisteten. Mit dieser Erkenntnis fiel es mir nun ein wenig leichter, weiterhin an diesem Ort zu bleiben. „Er scheint lediglich ein wenig anders mit ihrem Verlust umzugehen, Phileas. Das bedeutet nicht, dass er sie vergessen hat."
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Die Zofe
Teen FictionIn einer Welt einige Jahre vor unserer Zeit, im alten Mittelalter, kämpft ein Mädchen gegen ihr Schicksal. Dazu bestimmt, den Rest Ihres Lebens gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Land zu verbringen und von dem wenigen Geld zu leben, welches sie auf...