Schutt und Asche

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Das Wetter spiegelte an diesem Tag unsere Stimmung wieder. Der Himmel war wolkenverhangen, sodass kein einziger Sonnenstrahl seinen Weg hindurch finden konnte. Die Kälte hatte zugenommen, weshalb meine Hände bereits nach kürzester Zeit zu frieren begannen, während ich diese Kerze fest in meinen Händen hielt. Als würde ich damit meine Mutter an diesem Ort festhalten können. Auch um mich herum standen Kerzen. Auf dem Boden, auf Holzklötzen oder sie hielten sie in den Händen, genau wie ich. In der jetzigen Abenddämmerung waren diese noch deutlicher zu sehen und verbreiteten ein schauriges Licht um uns herum.

Jurian stand nur einen halben Meter hinter mir. So musste er nicht sehen, wie ich damit zu kämpfen hatte, nicht in Tränen auszubrechen. Ich war sogar ein wenig erleichtert darüber, dass sie nicht so lange hatte leiden müssen. Mein Bauchgefühl am frühen Morgen hatte sich nicht geirrt. Die wenigen Stunden die ihr noch geblieben waren, verblieb ich in ihrem Zimmer, um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Das Risiko selbst zu erkranken, war mir in diesem Augenblick egal. Ich wusste nur, dass ich es anders machen wollte, als bei meinem Vater.

Nun standen wir hier. Vor vier rechteckigen Löchern im Boden, die seit dem Nachmittag mit Mühe ausgehoben wurden. Meine Mutter war nicht die einzige, die an diesem Tag verstorben war. Auch die Eltern mit ihrem Kind, die im Haus gelebt hatten, welches als Erstes betroffen war, sowie ein älterer Mann aus einem weiteren Haus, würden nun hier hoffentlich ihre Ruhe finden können. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ein Pfarrer aus einem nahegelegenen Dorf war vorbeigekommen, um uns wenigstens den Hauch einer Zeremonie bieten zu können. Diese Menschen waren nicht Schuld an ihrem Tod. Sie hatten einen gebührenden Abschied verdient.

Die gesamte Zeremonie verbrachte ich wie in Trance. Mein Blick war lediglich auf das Grab meiner Mutter fokussiert, während meine Gedanken noch immer in dem Moment festsaßen, in dem ich das letzte Mal den sanften Druck ihrer Hand gespürt hatte, ehe sie mich für immer verließ. Eine Berührung an meinem Arm ließ mich aufsehen, wodurch mein Blick auf Jurian fiel, der mir mit einem zaghaften Lächeln entgegenblickte. Er trauerte, genau wie ich. Meine Mutter war mehr für ihn gewesen, als lediglich eine Nachbarin. Auch wenn sie nie gewollt hatte, dass er uns half, hatten sie sich an manchen Tagen dennoch gut miteinander verstanden.

„Es ist vorbei, Cami.. wir sollten gehen." Sein Lächeln sollte mich aufheitern und das tat es auch ein wenig. So, wie wir uns schon immer gegenseitig zur Seite gestanden hatten. Was auch immer vorgefallen war. Ich wusste, dass es hier nichts mehr zu tun gab. Das Ende der Zeremonie hatte ich nicht wahrgenommen, weshalb ich erst jetzt realisierte, dass nur noch wir beide hier standen. Dieser Abschnitt war nun vorbei und er erschien mir als angenehmster Teil, der gesamten Prozedur. Was nun folgte, würde deutlich schwieriger zu überstehen sein.

„Wir stehen das gemeinsam durch, okay?" Seine Stimme war nun etwas sanfter geworden, was dazu führte, dass ich mich nun doch mit einem kurzen Nicken von dem Grab abwandte und mit ihm zurück zu unserem Haus lief. Die Kerze in meinen Händen hielt ich dabei noch immer fest umklammert. Ich hatte Angst, dass ich alles endgültig verlieren würde, wenn ich sie auch nur eine Sekunde losließ. Doch genau dies würde ich tun müssen. Alles was mir von größter Bedeutung war und ich als nützlich empfand, hatten wir bereits in der Nacht herausgeschafft, damit ich nicht alles an diesem Tag verlieren würde.

Doch nun blieb noch der letzte Schritt, der mich mehr Überwindung kosten würde, als ich ahnte. Ich fragte mich, wie es meiner Mutter damals so leicht gefallen war. Vielleicht hatte ich dies auch nur aus der Sicht meiner unschuldigen Kinderaugen betrachtet, die den wahren Schmerz in solch einer Situation nicht erkennen konnten. Vor der Haustür meines Heims blieben wir stehen, woraufhin ich meinen Blick noch ein letztes Mal über die Fassade gleiten ließ. Im Vergleich zu dem Haus von Jurians Familie, bestand dieses hier nur aus Holz. Auf eine andere Weise wäre es nicht möglich gewesen, es damals in so kurzer Zeit wieder herzurichten.

Noch bevor die Zeremonie begonnen hatte, hatten wir gemeinsam ein paar Vorkehrungen getroffen, damit dieser Schritt einfacher umzusetzen war. Der Stall mit unseren Tieren war weit genug vom Haus entfernt und würde somit glücklicherweise nicht betroffen sein, sobald die Flammen um sich schlagen würden. Es war kein großer Akt der auszuführen war. Dennoch zögerte ich, während mich die Erinnerungen an jeden einzelnen Moment meiner Kindheit in diesem Haus einzuholen schienen. Eine sanfte Berührung von Jurian an meinem Arm erinnerte mich jedoch wieder daran, aus welchem Grund wir hierher zurückgekommen waren.

Weshalb ich ein paar Schritte in das Haus hineintrat und die Kerze in meinen Händen direkt unter eine unserer Decken stellte. Es war die einfachste Methode um eine große Fläche zur gleichen Zeit entzünden zu können. Noch während ich dort stand und die Kerze dabei beobachtete, wie ihre Flammen sich um das eine Ende der Decke schlängelten, konnte ich die ersten Rauchschwaden sehen, wie sie sich kaum erkennbar darüber emporhoben. Nach einem tiefen Atemzug trat ich wieder hinaus ins Freie, wo sich mein Blick mit dem von Jurian kreuzte.

Er nickte mir kurz aufmunternd und zog mich daraufhin in eine Umarmung. Die Tränen, die ich seit dem Beginn der Beerdigung meiner Mutter zu unterdrücken versucht hatte, traten schlagartig hervor und liefen mir nun über die Wangen. Im Augenblick dachte ich weder darüber nach, wo ich zukünftig unterkommen konnte oder wie mein Leben ohne meine Mutter aussehen würde. Meine Gedanken drehten sich voll und ganz darum, dass ich nun fast alles verloren hatte, was mich mit meiner Familie verband. Nur die Schaukel war mir noch geblieben, denn das Blumenmeer am Rande des Dorfes war eine Erinnerung die ich lediglich mit Jurian teilte.

Minuten standen wir dort, während Jurian mich festhielt und mir beruhigend über den Rücken strich. Ich wollte meinen Blick nicht zurück zum Haus wenden. Ich wollte nicht sehen, wie sich meine Vergangenheit direkt vor meinen Augen in Luft auflöste. Allerdings hörte ich das Knistern des Feuers, während es sich durch die hölzerne Struktur des Hauses fraß und nichts als Schutt und Asche zurücklassen würde. Allein diese Geräusche zerrten an meinem Herzen, denn noch vor wenigen Wochen war unser Leben genau so gewesen, wie wir es haben wollten. Es war nicht einfach gewesen, doch wir kamen zurecht.

Jetzt, nur wenige Wochen später, stand ich mit Jurian vor diesem Haus und hörte dabei zu, wie es sich Schritt für Schritt selbst von innen zerfraß. All die vergangenen Tage waren nur ein winziger Augenblick meines Leben gewesen, doch beinhielten so viel Leid, dass ich nicht recht wusste, wie ich das verarbeiten sollte. Bei der Prozedur vor vielen Jahren, war ich zu klein gewesen, um mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was diese Dinge für Auswirkungen haben würden.

Diesmal war es anders. Mir stand mein ganzes Leben noch bevor. Nur meine Vergangenheit schien aus diesem Ort wie ausradiert worden zu sein. Wie konnte ich neue Erinnerungen schaffen, ohne diese Menschen, die in den damaligen Zeiten an meiner Seite gewesen waren? Ich konnte die Zeit mit meiner Mutter und auch die mit meinem Vater nicht erneut erleben. Es war vorbei und diese Tatsache zu akzeptieren war das Schlimmste an dem ganzen Prozess. Jurian würde mir beistehen, da war ich mir sicher.

Mein Plan bestand darin, in nächster Zeit bei ihm unterzukommen. Ich konnte Glück haben und seine Eltern sahen für ein paar Tage über die damaligen Geschehnisse hinweg. Doch wenn das Pech mich weiterhin verfolgte, blieb mir nichts anderes übrig, als die Nächte draußen oder im Stall zu verbringen. Ich konnte mir keine Last aufbinden, die ich nicht würde tragen können. Selbst wenn Jurian damit einverstanden war, musste ich mich nach der Entscheidung seiner Eltern richten.

Gedanklich war ich jedoch nur so weit, dass ich einen groben Plan vor Augen hatte. Durchdacht war dieser nicht. Um meine Gedanken wieder ein wenig klarer werden zu lassen, versuchte ich mich auf Jurians Herzschlag zu konzentrieren und nicht auf das unaufhörliche Knistern und Knacken in dem Haus hinter mir. Minuten vergingen, in denen ich mich wieder ein wenig beruhigte, meinen Blick aber dennoch nicht dem Haus zuwandte. Ich würde es nicht aushalten, zu sehen, wie es in sich zusammenfiel.

Erst als ich Wärme an meinem Rücken spüren konnte, die eindeutig nicht von Jurian kam, wandten wir uns von diesem Haus ab, um in der nun dunklen und kalten Nachtluft den Weg zu ihm nach Hause einzuschlagen. Erst am nächsten Morgen, wenn die Flammen verschwunden waren und alles einem Haufen Asche glich, würde ich wieder dort vorbeigehen, um akzeptieren zu können, dass ich nicht in der Lage gewesen wäre, es aufzuhalten.

Das Schicksal meinte es allerdings nicht gut mit uns, weshalb der restliche Abend alles andere als so stattfand, wie wir es uns vorgestellt hatten. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt