Fremde unter Bekannten

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„Treten Sie ein." Das waren die Worte, auf die ich gewartet hatte, während ich vor der hell angestrichenen Tür stand. Sofort legte ich meine Hand an die bereits angelehnte Tür und öffnete diese ein Stück weiter, um problemlos hindurchgehen zu können. In der anderen Hand versuchte ich konzentriert ein Tablett auszubalancieren, damit sich der Tee, der sich darauf befand, nicht auf dem vor Sauberkaut glänzenden Boden verteilte. Mit vorsichtigen Schritten betrat ich das Schlafgemach, welches sich mir nun eröffnete und ich ließ meinen Blick für einen Moment durch den Raum schweifen, ehe ich mich der Person zuwandte, die dort in dem ordentlich angerichteten Bett lag.

„Sie müssen Camilla sein." Gab die noch recht jung wirkende Frau in dem Bett von sich und ich beantwortete diese Aussage mit einem leichten Nicken. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen." Das Lächeln, welches auf meinen Lippen lag, während diese Worte meinen Mund verließen, war echt. „Die Freude ist ganz meinerseits. Ich nehme an, dieser Tee ist für mich?" Erneut nickte ich und trat ein paar Schritte näher zu ihr an das Bett. Die braunen, langen Haare der Frau wirkten nicht einmal ansatzweise so wirr und zerzaust, wie ich es erwartet hatte. Als Phileas mir mitteilte, dass es seiner Mutter nicht gut gehen würde, hatte ich sofort das Bild meiner eigenen Mutter vor Augen.

Ich stellte das Tablett vorsichtig auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett ab und überreichte der Frau die mit Tee gefüllte Tasse, sobald sie sich ein wenig aufrechter positioniert hatte. „Bitte, leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft." Da ich diesem Wunsch nur ungerne widersprechen konnte, ließ ich mich zaghaft an der Bettkante nieder und blickte dann wieder aufmerksam zu ihr. Aus der Nähe betrachtet, war die Ähnlichkeit zu ihren Söhnen nur noch deutlicher zu erkennen. Die braunen Haare, die markanten Gesichtszüge und dieser Ausdruck in ihren Augen, den ich nicht recht einordnen konnte. „Hat Amalia beschlossen fortzugehen? Sie kam bereits seit dem gestrigen Abend nicht mehr zu mir."

Diese Frage enthielt einen besorgten Unterton, wobei noch etwas anderes darin zu vernehmen war. Nur konnte ich nicht sagen, was. „Sie fühlt sich im Augenblick nicht gut. Wir haben beschlossen, ihr zur Hand zu gehen, während sie sich ein wenig ausruht." Erklärte ich ihr den Grund, weshalb nun ich ihr den Tee brachte und nicht Amalia, wie sie es sonst wohl immer tat. „Das ist sehr freundlich von euch. Sie ist euch dafür sicherlich sehr dankbar." Meinte sie und nippte daraufhin kurz an ihrem Tee. Diese Frau wirkte sehr verständnisvoll, was mir noch einen Grund mehr gab, um mich zu fragen, wie ihr Sohn Kiyan, zu solch einem gemeinen Menschen werden konnte.

Selbst wenn er außerhalb dieser steinigen Wände nur geschwiegen hatte, ließen die bisherigen Ereignisse die ich mit ihm erlebt hatte, deutlich darauf schließen, dass er nicht solch ein freundliches Gemüt wie seine Mutter oder Phileas hatte. „Erlauben Sie mir zu fragen, aus welchem Grund Ihr Gatte nicht ebenfalls in diesem Zimmer verweilt?" Dies war mir bereits bei Betreten des Raumes aufgefallen. Das Zimmer sah mehr danach aus, als würde lediglich eine Person darin leben und diese befand sich im Augenblick nur eine Armlänge von mir entfernt. „Ihnen ist gestattet, jede Frage zu stellen, zu der Sie eine Antwort suchen." Erklärte mir diese Frau und schenkte mir dabei ein vertrauensvolles Lächeln.

„Er ist für ein paar Tage geschäftlich auf Reisen. Allerdings hat er sein eigenes Schlafgemach. Meist ist er bis spät in die Nacht beschäftigt, da war es mir angenehmer, ihn nicht mit meiner Anwesenheit zu stören." Im ersten Augenblick wirkte diese Erklärung plausibel. Im Nachhinein fragte ich mich, weshalb sie es bevorzugte, alleine hier zu liegen, als ihm Gesellschaft zu leisten. Selbst wenn sie dies nur durch ihre Anwesenheit tat. Ich nickte daher nur verstehend.

„Nehmen Sie es Kiyan bitte nicht übel, wenn er gelegentlich ein wenig harsch reagiert. Er ist immer ein wenig gestresst, wenn sein Vater unterwegs ist und er seine aktuellen Tätigkeiten übernehmen muss." Ich legte meinen Kopf ein wenig schief, als sie dies ansprach. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, da ich genau in diesem Moment über ihn nachzudenken begonnen hatte. Es war eine verständliche Erklärung für sein nicht ganz so freundliches Verhalten und ich hoffte sehr, dass dies nicht von allzu langer Dauer war. Im Vergleich zu diesem gestressten Kiyan, war mir sein schweigendes Ich um Einiges lieber.

„Ich werde stets freundlich zu ihm sein." Meinte ich mit einem Schmunzeln und erhob mich schließlich doch wieder von dem Platz auf dem Bett, den die Frau mir gestattet hatte. „Bedauernswerter Weise muss ich mich nun wieder meinen Aufgaben widmen. Es war mir wirklich eine Freude, Sie kennenlernen zu dürfen. Sollten Sie etwas benötigen, können Sie jederzeit nach mir rufen lassen." Mit Freude hätte ich mich noch stundenlang weiter mit ihr unterhalten. Da mir nun sowohl meine als auch ein Teil von Amalia Aufgaben zu Teil geworden waren, gab es im Augenblick nur wenige Momente, in denen ich mir ein wenig Freizeit genehmigen durfte.

„Ich werde sie möglichst nicht dabei belästigen. Bitte richten Sie auch den anderen Mädchen meinen Dank aus, sie leisten allesamt eine hervorragende Arbeit." Dies quittierte ich lediglich mit einem Nicken und zog mich schließlich wieder in Richtung der Tür des Schlafgemachs zurück. Die noch geöffnete Tür lehnte ich wieder an, so wie sie zuvor gewesen war. Erst als ich den Gang ein paar Schritte weitergegangen war, blitzte etwas in meinem Kopf auf, was mich sofort wie eine Eissäule gefrieren ließ. Nur unterbewusst hatte mein Blick sie gestreift, doch jetzt sah ich jedes Detail von ihr direkt vor meinem inneren Auge.

Mit funkelnden Steinen besetzt, hätte sie mir eigentlich direkt ins Auge stechen müssen. Ich hatte sie überflogen wie eine Buchseite, wenn ich mit meinen Gedanken gänzlich woanders war. Die Krone hatte in der Nähe der Tür auf einer Kommode gelegen, als wäre dies etwas vollkommen Natürliches. Die Tatsache, dass es sich dabei wirklich um eine Krone handelte, war der Punkt, der mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nun erinnerte ich mich daran, was Thekla vor wenigen Tagen gesagt hatte, als sie Helene daran erinnern wollte, den Tee zuzubereiten. Sie hatte sie gefragt, ob sie daran gedacht hatte, den Tee für die Königin aufzusetzen.

Plötzlich kam mir alles surreal vor und mein Sichtfeld verschwamm für einen kurzen Moment vor meinen Augen. Die Frau, der ich noch vor wenigen Minuten persönlich den Tee überreicht hatte, war die Königin mit Leib und Seele gewesen. Und ich hatte es nicht gewusst. Gedanklich durchlief ich die letzten Minuten erneut, nur um festzustellen, dass ich mich einer Königin gegenüber wohl nicht vornehm genug verhalten hatte. Was war diese Art von vornehm überhaupt? Ich hatte seit meiner Kindheit nicht einmal mit den angesehensten Menschen des Adels in Kontakt gestanden. Von Phileas und seinem Bruder einmal abgesehen.

Ich spürte einen ungewohnten Druck in meiner Brust, als meine Gedanken sich in eine andere Richtung wendeten. Wenn diese Frau dort in dem Raum, die Königin höchstpersönlich war, dann waren Phileas und Kiyan die Kronprinzen in genau der Familie, welche in der Stadt bereits für unzählige Gerüchte gesorgt hatte. Bei der Erinnerung daran, dass ich mit Phileas gesprochen hatte, als wären wir uns in einer gewissen Form ebenwürdig, wurde mir augenblicklich schlecht. Wieso hatte ich diese Anzeichen nicht bereits zu Beginn richtig zusammengesetzt?

Somit erklärte sich mir auch, weshalb dieses Gebäude in dem sie lebten, so unheimlich groß und majestätisch wirkte. Es war nicht einfach nur das Heim einer Adelsfamilie, die sich mit hochangesehenen Aufgaben beschäftigte und dadurch ihren Lebensstandard zustande brachte. Es war das Schloss, von dem nur ein Bruchteil der Menschen aus meiner Gegend wusste, wo es sich befand. Kaum jemand hatte diesen Ort bisher betreten und mit den Erinnerungen an all die entstandenen Gerüchte, erklärte sich mir bereits, aus welchem Grund.

Der Druck in meiner Brust wurde noch deutlich unangenehmer und ich begriff langsam, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Obwohl dieses Schloss so groß war und es unendlich viele Räume gab in die ich mich hätte zurückziehen können, fühlte ich mich in diesem Augenblick wie in einem Käfig gefangen. Ich musste raus. Raus aus diesen steinigen, kalten Wänden. Raus aus diesem Schloss, wo ich mit etwas Glück die Möglichkeit bekam, wieder atmen zu können.

Ich rannte nicht, doch beim Heruntergehen der breiten Treppe gaben meine Beine beinahe unter mir nach und ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht zu fallen. Der Haupteingang würde mir verwehrt bleiben, da war ich mir sicher. Mit den Wachen die dort standen, würde es eine ewige Diskussion geben. Weshalb mir nur noch eine Möglichkeit blieb. Die Tür zum Garten, der aus dem Schlafsaal bereits ansatzweise zu sehen gewesen war. Den Weg dorthin zu finden, fiel mir nicht schwer. Ich war schon einige Male dort hinausgegangen, um die gewaschene Wäsche über die gespannten Leinen zu hängen.

Zu meinem Glück waren die Gänge leer und ich begegnete niemandem, der mich hier festhalten würde. Nach nur wenigen Minuten, kam ich mit panisch klopfendem Herzen an der breiten hölzernen Tür an und zögerte keinen Moment, diese zu öffnen. Sobald der erste kühle Luftzug mein Gesicht berührte, machte mein Herz einen kurzen erleichterten Sprung. Im nächsten Moment war ich auch schon bis auf die Knochen durchnässt. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt