Das Kind

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Meine Mutter war eine lange Zeit nicht zurück. Sie hatte mit dieser Frau unser kleines Grundstück verlassen und war seitdem aus meinem Sichtfeld verschwunden. Dadurch hatte ich jedoch genug Zeit, um die restlichen Arbeiten in unserem Haus zu erledigen. Die Sonne sank langsam hinter dem Horizont herab und tauchte unser Dorf in ein schimmerndes goldenes Licht. Im Augenblick war ich damit beschäftigt, unsere gewaschene Wäsche außerhalb des Hauses über eine einfache Leine zu spannen. Bis diese bei solch kühlen Temperaturen getrocknet sein würde, konnte es jedoch eine Weile dauern. Als ich damit geendet hatte, drehte ich mein Gesicht für einen Moment dieser golden leuchtenden Sonne zu und konnte noch hauchzart ihre Wärme auf meiner Haut spüren.

Etwas Anderes zog schließlich meine Aufmerksamkeit auf sich, als ich eine Person in der Nähe unseres Haus entdecken konnte, die genau wie ich, nun von diesem goldenen Schimmer umgeben war. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich erkannte, um wen es sich dabei handelte. Daher ließ ich meine jetzige Arbeit achtlos fallen und lief mit versucht langsamen Schritten zu dieser Person hinüber. „Juri?" Der junge Mann drehte seinen Kopf in meine Richtung, wodurch mit mich ein Paar bernsteinfarbener Augen anstrahlte.

Erst als er sich auch wirklich sicher zu sein schien, dass ich keine Halluzination war, bildete sich ein breites Lächeln auf seinen Lippen und er streckte seine Arme nach mir aus. „Ich dachte du seist fort, was machst du hier?" Ohne zu zögern nahm ich diese angedeutete Umarmung an und legte mit einer unendlichen Erleichterung meine Arme um seinen Körper. Bei meiner Rückkehr hatte ich beinahe vergessen, welchen Menschen ich an diesem Ort am meisten vermissen würde. Nun würde ich mich nicht mehr von ihm trennen müssen, was mein Herz von all den bisher angesammelten Schuldgefühlen gegenüber meiner Mutter befreite.

„Ich habe abgelehnt. Wer würde denn sonst dafür sorgen, dass du dich nicht einsam fühlst?" Diese Antwort schien ihn ein klein wenig zu schockieren, denn er blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue zu mir herunter. „Du hast abgelehnt? Kannst du nicht einmal das tun, was man dir sagt, Cami?" Eine Frage, worauf eine Antwort überflüssig gewesen wäre, denn er wusste genau, dass ich so etwas in den meisten Fällen nicht tat. „Es gibt hier noch so viel zu tun und ich hätte nicht mit dem Gedanken leben können, euch mit alldem alleine zu lassen." Versuchte ich zu erklären, aus welchem Grund ich diese Wahl getroffen hatte.

Wir lösten uns aus der Umarmung, wodurch ich die Möglichkeit bekam, ihn mir ein wenig genauer anzusehen. In der kurzen Zeit hatte er sich kaum verändert, doch irgendetwas war anders. Auch wenn es sein Lächeln nicht verriet, schien er dennoch ein wenig geknickt zu sein. Als hätte er etwas erfahren, was im wichtiger war, als er zugeben wollte. „Bitte sei ehrlich zu mir.. was ist los, Juri?" Dieser plötzliche Themenwechsel führte dazu, dass das Lächeln auf seinen Lippen langsam verschwand und er ein leises Seufzen von sich gab. „Deine Mutter ist vermutlich schon informiert worden, deshalb fragst du danach.." Da dies auch genau der Wahrheit entsprach, nickte ich nur bestätigend.

„Kannst du dich noch daran erinnern, als deine Mutter dir vor vielen Jahre sagte, dass du zuhause bleiben und keinen einzigen Schritt vor die Tür machen sollst?" Daran konnte ich mich sehr gut erinnern. Dies geschah kurz vor der Zeit, in der hier alles seinen Halt verlor. „Wie du schon sagst, das ist Jahre her. Warum sprichst du nun davon?" fragte ich ihn und ich konnte sehen, wie Jurian sich einen Moment umsah. Als wollte er sichergehen, dass auch nur ich diese Information von ihm erfuhr.

„Kennst du das Haus am anderen Ende dieses Weges? Vor wenigen Tagen ist dort ein junges Kind erkrankt. Anfangs schien es nicht dramatisch zu sein, also haben sie niemandem davon erzählt." Ich runzelte leicht die Stirn. Warum sprach er davon? Dass Kinder krank wurden, war während dem Wechsel der Jahreszeiten keine Seltenheit. Natürlich musste nicht automatisch das gesamte Dorf davon erfahren. Warum also war dies nun so besonders wichtig?

„Wir haben es erfahren, kurz nachdem ihr euch auf den Weg gemacht habt. Es ist der schwarze Tod, Cami. Innerhalb dieser wenigen Tage hat er bereits jeden aus diesem Haus befallen." Es fühlte sich an, als würde man mir einen Dolch ins Herz rammen. Jahrelang hatten wir es geschafft, nach dieser Katastrophe weiterzuleben und jetzt schien es fast so, als würde alles von Neuem beginnen. „Deshalb ist es hier so still.." machte ich ihm meine Erkenntnis kund. Ich spürte, wie ein leichter Hauch von Panik in mir heraufstieg. Warum geschah dies nun ein weiteres Mal? Warum mussten wir erneut so leiden, wie es bereits vor vielen Jahren der Fall gewesen war?

„Es gibt keinen Grund sich Sorgen zu machen." Versuchte Jurian mich zu beruhigen, während er meine Hände mit seinen umschloss, um dass Zittern dieser zu verhindern, welches so abrupt begonnen hatte. In seinen bernsteinfarbenen Augen versuchte ich die Sicherheit wieder zu finden, die uns jahrelang begleitet hatte. Doch es funktionierte nicht. „Wir haben Vorkehrungen getroffen und können nur hoffen, dass es diesmal keine großen Ausmaße annimmt." Hoffnung war etwas, was uns damals jedoch auch nicht geholfen hatte.

Einige hatten ihre Gebete in den Himmel geschickt, andere hatten sich damit abgefunden, ihrem Ende entgegen zu blicken. Jeder von uns war zu dieser Zeit anders mit der Situation umgegangen. Ich spürte, wie Tränen in meinem Inneren aufstiegen, als ich daran dachte, wie es sein würde, ihn oder geschweige denn meine Mutter bei solch einer erneuten Plage zu verlieren. Ein weiteres Mal würde ich dies nicht überstehen. Ich wusste auch, dass es Juri in diesem Augenblick genauso ging. Doch wie so oft, stellte er die Bedürfnisse anderer über die Seinen und zeigte mir deshalb seine Sorge nicht.

„Du solltest im Haus bleiben, Cami. Noch wissen wir nicht, wo dieses Kind sich angesteckt haben könnte. Wir können nur dafür sorgen, dass wir dieser Familie nicht zu nahe kommen." Ich nickte wie in Trance. Meine Gedanken hatten sich wieder in ein wildes Durcheinander verwandelt, welches alle möglichen Szenarien der nächsten Wochen durchspielte. Keines davon, beinhaltete ein gutes Ende für uns. „Niemandem von uns wird etwas geschehen, das verspreche ich dir." Dieses Versprechen gab mir ein wenig Halt. Selbst wenn meinem Unterbewusstsein klar war, dass er den schwarzen Tod nicht aufhalten konnte. Er wanderte dorthin, wo es ihm gefiel und ließ regelrecht alles in Schutt und Asche zurück.

Es dauerte einen weiteren Moment, bis ich mich soweit wieder beruhigt hatte, dass mein Herz in einem angemessenen Rhythmus schlug. Erst dann löste er meine Hände aus den Seinen und deutete mit einem Nicken in die Richtung meines Hauses. „Deine Mutter sollte sicher gleich zurückkehren." Nur langsam trat ich daraufhin zurück. Ich wollte nicht gehen, mit dem Gedanken in meinem Kopf, dass er womöglich bereits am nächsten Tag, genau dem selben Schicksal erliegen konnte, wie diese Familie. Niemand von uns hatte es kommen sehen, doch wir hatten aus unseren bisherigen Erfahrungen lernen können.

Also lief ich schließlich zurück ins Haus, während auch Jurian seinen Weg nach Hause antrat. Warum er sich überhaupt in der Nähe unseres Hauses aufgehalten hatte, war mir unschlüssig. Ich war lediglich froh darüber, dass er sich nicht weiterhin dort draußen aufhielt. Die Pest verbreitete sich in einem rasenden Tempo. Hätten wir damals nicht schnell genug reagiert, hätte es jedes einzelne Leben in diesem Dorf gekostet. Damals hatten wir Glück gehabt. Für viele Jahre war alles still gewesen, aber genau jetzt, schien uns unser Schicksal wieder einzuholen.

Ich schloss die hölzerne Tür hinter mir, sobald ich unser kleines Haus betreten hatte und setzte mich auf einen der wenigen Stühle, die sich in unserem Wohnraum befanden. Diese Nachricht kam mir vor wie ein Traum. Noch realer traf mich jedoch der Gedanke, dass ich von all dem nichts erfahren hätte, wenn ich wenige Stunden zuvor mit diesen Männern mitgegangen wäre. Es war nur eine einzige Entscheidung gewesen, doch letztendlich hatte das Schicksal bei jeder meiner Wahlmöglichkeiten ein schreckliches Ende für mich geplant.

Es würde eine lange Nacht werden, da war ich mir sicher. Zumal ich nicht wusste, wann meine Mutter zurückkehren würde und nicht klar war, wohin sie mit dieser Frau überhaupt gegangen war. In diesem Augenblick, während ich alleine auf diesem klapprigen Stuhl saß und mir all diese Gedanken durch den Kopf schossen, die keineswegs eine positive Seite an sich hatten, wurde mich bewusst, wie machtlos wir bereits damals schon gegen dieses Unheil gewesen waren und wie machtlos wir auch dieses Mal dagegen sein würde.

Alles war still um mich herum. Das Zwitschern der Vögel war nur noch vereinzelt zu hören und hörte sich fast schon ein wenig verstimmt an. Als wüssten auch sie, dass sich hier ein grauenvolles Ereignis anbahnte. Während ich so hier saß, alleine in dieser Stille, die mich wie eine Mauer umgab, kam ich mir ziemlich einsam vor.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt