Die Zeit schien stillzustehen, während wir dort mitten im Raum standen und uns einander in den Armen lagen. Nach einer Weile jedoch, löste ich mich langsam von ihm und trat einen Schritt zurück. Es schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil, er blickte aufmerksam und mit einem Lächeln auf den Lippen zu mir herunter. Doch dann trat ein Hauch von Sorge in seinen Blick. „Bereitet dir die Wunde noch Schmerzen?" fragte er mich, woraufhin ich fast schon automatisch eine Hand hob und die Stelle an meinem Hals berührte, an dem Thekla mir diesen Schnitt zugefügt hatte. Noch immer wurde dieser von einem Leinentuch verdeckt, weshalb ich mir nicht sicher war, was ich darauf antworten sollte.
„Ein wenig. Die Heilung hat bereits eingesetzt, es wird aber wohl noch eine Weile dauern." Antwortete ich ihm, nachdem ich einen Augenblick über meine Wortwahl nachgedacht hatte. Natürlich bereitete es mir noch Schmerzen. Lange nicht mehr so stark wie an dem Tag, als es geschehen war, dennoch wollte ich Jurian nicht noch mehr beunruhigen. Er schien sich endlich ein wenig zu entspannen. „Bist du dir sicher?" fragte er nach, während sein Blick nun beinahe misstrauisch auf mir lag. Nach einem überzeugten Nicken meinerseits, verschwand dieser sorgenvolle Blick in seinen Augen allerdings wieder.
„Du solltest dich noch ein wenig ausruhen, Cami. Ich wollte dich nicht noch länger davon abhalten." Dieses Lächeln, welches auf seinen Lippen lag, übertrug sich unweigerlich auch auf mich. Ich griff nach seiner Hand, ehe er sich zum Umdrehen bewegen konnte und hielt ihn somit davon ab, sich von mir zu entfernen. „Mir ist durchaus bewusst, dass du einen anstrengenden Tag vor dir hast, Juri. Allerdings.." Ich verstummte, versuchte meine Worte mit Bedacht zu wählen, damit sie keine unbeabsichtigten Aussagen beinhielten.
„Würdest du die Nacht hier bei mir verbringen?" fragte ich ihn und erwartete bereits eine abwehrende Reaktion von ihm. „Nachts ist es hier unglaublich still. Das ist unheimlich." Beichtete ich ihm und musste mir damit indirekt selbst eingestehen, dass mir finstere, regelrecht geräuschlose Räume eine gewisse Angst bereiteten. Im Dorf war dies nie der Fall gewesen. Ich hatte mich zu eigentlich jeder Zeit wohlgefühlt. Abgesehen von den Monaten, in denen diese mörderische Krankheit dort ihr Unwesen getrieben hatte und es nun erneut tat. Ich erschauderte bei der Erkenntnis, wie sehr mich dieser Ort verändert hatte.
Jurian schien zu zögern. Blickte erst hinab auf meine Hand, die seine mit einem leichten Griff umschloss. Er konnte sich jederzeit von mir entfernen, wenn er es wollte. Doch er tat es nicht. „Es wäre mir eine Ehre, dir Gesellschaft zu leisten." Antwortete er mir schließlich und das Lächeln auf seinen Lippen entwickelte sich zu einem schälmischen Grinsen. „Sollte allerdings jemand nach dir suchen, werde ich dich bedauerlicherweise verlassen müssen. Ehe die wehrten Prinzen die Situation noch falsch wahrnehmen."
So kannte ich ihn. Dieser ernste Ausdruck auf seinem Gesicht, der ihn die letzten Tage, regelrecht sogar Wochen, begleitet hatte, war verschwunden. Er machte Scherze, so wie ich es von ihm gewohnt war. Ich war mir nicht sicher, wie lange er diese Ruhe ausstrahlen würde, doch ich war erleichtert, dass er in diesem Moment nicht mehr die Sorgen der letzten Wochen mit sich herumtrug. „Einverstanden." Gab ich mit einem Schmunzeln von mir, ehe ich mich von ihm abwandte und mich dem Bett näherte, auf dem ich zuvor gesessen hatte. Es war nicht gelogen, dass mir dieser Raum hier in der Nacht unheimlich erschien. Zudem fühlte ich mich seit dem Verschwinden der anderen Mädchen zunehmend einsam in dieser Stille.
„Und was diesen Keylam betrifft.." Ich konnte mir ein Augenverdrehen nicht verkneifen, als Jurian den Namen dieses unschuldigen Jungen aussprach. „Höre ich da etwa einen Hauch von Eifersucht in deiner Stimme?" Mit einer hochgezogenen Augenbraue drehte ich mich wieder in seine Richtung, ließ mich dann aber auf dem Bett nieder. „Sicherlich nicht. Deine Wahrnehmung scheint dich wohl zu trügen." Entgegnete er, fast schon ein wenig beleidigt. Ich schüttelte amüsiert den Kopf. Es kam mir unmöglich vor, dass Jurian so etwas wie Eifersucht gegenüber Keylam empfinden konnte. Ich hob eine Hand und streckte sie nach ihm aus. „Würde der wehrte Sturkopf sich nun zu mir gesellen, damit ich nicht vor Angst verenden muss?"
Meine Worte schienen Jurians Stimmung wieder ein wenig aufzuhellen. Er setzte sich in Bewegung, ehe er sich neben mir auf dem Bett niederließ. „Er scheint dich gern zu haben, der Kleine." Begann er erneut und meine Reaktion darauf folgte augenblicklich. Ein stummer aber dennoch böser Blick in seine Richtung. Als er diesen bemerkte, hob er abwehrend die Hände. "Ich bin unschuldig, Cami. Keylam ist hier der Böse." „Noch ein Wort über ihn, dann setze ich dich höchstpersönlich vor Kiyans Tür ab und bitte ihn darum, dich wieder hinauszuwerfen." Jurian versuchte es zu unterdrücken, doch es war vergeblich. Er begann zu lachen und ich stimmte nach einem kurzen Moment automatisch mit ein.
Mit einer kurzen Bewegung legte er seine Arme um mich und ich konnte sein Herz durch seine Brust amüsiert klopfen hören. Er hatte die Sorgen für diesen Moment abgelegt. Ich war unendlich erleichtert darüber, ihn wieder so ausgelassen zu sehen. „Meine liebste Cami, das würde dir dein kleines Herz nicht gestatten." Erst versuchte ich, mich aus dem Griff seiner Arme zu lösen, bis ich merkte, dass mir dies nicht gelang. Weshalb ich nachgab und meinen Kopf wieder auf seiner Brust ablegte. „Damit hast du wohl recht." Bestätigte ich mit einem dumpfen Grummeln, doch das Lächeln auf meinen Lippen blieb noch immer.
Dieser kurze Moment brachte mir in Erinnerung, dass ich wahrlich nicht alles verloren hatte. Jurian war hier, ein wichtiger Teil meiner Familie. Ich fragte mich nur, ob ihm bewusst war, wie sehr seine Anwesenheit mich wieder zur Ruhe kommen ließ. Ich lag ihm ebenso sehr am Herzen, sonst hätte er sich nicht auf diesen langen beschwerlichen Weg gemacht und versucht mich zu finden. Er hatte sein Leben im Dorf für mich aufgegeben. Dennoch hoffte ich inständig, dass wir uns auf die selbe Weise betrachten. Dass wir uns als Teil einer Familie sahen, nicht mehr als das. Ich kannte Jurian schon so lange und konnte dennoch nicht mit Sicherheit sagen, was er mir gegenüber empfand.
An diesem Abend dauerte es nicht lange, bis ich nach unserem Gespräch in einen traumlosen Schlaf fiel. Das leise, stetige Klopfen von Jurians Herzschlag direkt an meinem Ohr. Es gab nichts, was mich in diesem Moment besser beruhigen konnte. Ich bemerkte noch, wie Jurian die Kerze auf dem Nachttisch erlöschen ließ, doch wie lange er selbst noch seinen Gedanken hinterher hing, ehe auch er in den Schlaf überging, bekam ich nicht mehr mit. So tief wie in dieser Nacht hatte ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr geschlafen. Ich fühlte mich in Sicherheit und wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Jurian darum zu bitten, die Nacht bei mir zu verbringen.
Dennoch wurde ich zur frühen Stunden bereits wieder aus diesem angenehm tiefen Schlaf gerissen, als sich etwas in meiner Nähe zu bewegen schien. Einen Spalt weit öffnete ich meine verschlafenen Augen und konnte in der Dunkelheit nur schemenhaft eine Gestalt erkennen, die sich direkt neben dem Bett befand. Vorsichtig tastete ich mit meiner Hand neben mich und stellte fest, dass Jurian nicht mehr dort lag. Mein bereits schneller schlagendes Herz beruhigte sich langsam wieder. Er musste es daher wohl auch sein, der nun neben meinem Bett stand. Der dunkle Schatten hob eine Hand und hielt sich einen Zeigefinger an die Lippen. Ein stummes Zeichen dafür, dass ich leise sein sollte. Die dunklen Augen und die Frisur dieser Gestalt, die ich in dem spärlichen Licht nun etwas besser wahrnahm, bestätigten meine Vermutung.
Weshalb ich mich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen zurück in die Decke kuschelte und wieder die Augen schloss. Sein Dienst als Wache am Tor begann wohl sehr früh, es wunderte mich daher nicht, dass er sich mitten in der Nacht bereits auf den Weg machte. Das war abzusehen. Dennoch war ich froh über seine Anwesenheit. Darüber, dass er mir zur Seite stand, obwohl wir uns in den nächsten Wochen nicht einmal in der Nähe voneinander befinden würden. Er würde dafür sorgen, dass mir nichts geschehen würde, davon war ich überzeugt.
Während ich schweigend darauf wartete, dass der Schlaf mich wieder einholte, hörte ich nur, wie sich die Tür des Schlafsaals langsam öffnete und kurz darauf wieder leise schloss. Jurian war verschwunden. Nun würde auch er seine Arbeit im Schloss antreten. Wissend, dass wir uns nicht mehr verlieren würden. Dieses Schloss war nun unser neues Zuhause. Das einzige, was ich in diesem Zustand des Halbschlafs jedoch nicht wahrnahm, waren die stetigen, nicht gänzlich rhythmischen Schläge, die dumpf durch die Gänge des Schlosses schallten. Ein Geräusch, welches ich bereits kannte, meine Aufmerksamkeit aber nun nicht mehr beanspruchte.
Ich überhörte es gänzlich. So wie ich auch kaum wahrgenommen hatte, dass Jurian den Schlafsaal verlassen hatte. Ein Moment der Stille, den ich am darauffolgenden Morgen bereits wieder vergessen haben würde. Ssowohl der Gedanke an Jurian, als auch an die dumpfen, andauernden Schläge, die mir so bekannt waren, würden mich noch für einige Zeit verfolgen. Selbst in meinen Träumen würden sie an mir kleben. Davon und von all dem, was noch auf mich zukommen würde, ahnte ich in dieser Nacht nichts. Es gab keine Anzeichen dafür, was in der nächsten Zeit geschehen würde, weshalb mein unschuldiges Gewissen mühelos vom Schlaf übermannt wurde und mich erneut in ein traumloses Nichts zog.
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Die Zofe
Novela JuvenilIn einer Welt einige Jahre vor unserer Zeit, im alten Mittelalter, kämpft ein Mädchen gegen ihr Schicksal. Dazu bestimmt, den Rest Ihres Lebens gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Land zu verbringen und von dem wenigen Geld zu leben, welches sie auf...