Zwischen den Fronten

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P.o.V. Jurian

Sie war verschwunden. Nachdem meine Eltern Camilla fortgeschickt hatten und sie gezwungen war draußen zu schlafen, hatte ich die halbe Nacht wachgelegen, mit dem Gedanken, dass sie dort draußen in der nächtlichen Kälte wohl genauso wenig Schlaf finden würde, wie ich. Bereits früh am nächsten Morgen hatte ich mir meine Jacke übergezogen und das Haus verlassen. Camilla war ein Teil meiner Familie. Ich würde sie nicht alleine lassen, nicht einmal jetzt, seit sie alles verloren hatte. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten das Dorf bereits in ein golden schimmerndes Rot, während mich meine Beine auf direktem Weg zu der Scheune trugen, die das Einzige war, was das Feuer nicht zerstört hatte.

Doch als ich dort ankam, war alles still. Kein zufriedenes Schnauben von Leno war zu hören, welches er regelmäßig von sich gab, wenn er seine morgendliche Portion Hafer bekam. Das Tor der Scheune war nicht verschlossen, weshalb ich beschloss, hineinzugehen und mich meiner Vorahnung zu vergewissern. Leno war fort. Der Schwarzwälder fiel einem meist sofort ins Auge wenn man hereinkam, aber der Stall war vollkommen leer. Mein Blick schwirrte umher, versuchte die kleinen Details zu betrachten, die eine Erklärung dafür geben konnten, wo Camilla war. Denn auch von ihr, war keine Spur zu sehen.

Im Gegenzug entdeckte ich etwas Anderes. Die kleine weiße Chrysantheme die ich ihr bei unserem letzten Abschied überreicht hatte, noch bevor sie zur Stadt aufgebrochen war, lag am Rand des kleinen Fensters. Sie hatte ihre Farbe verloren und war bereits zu einem grauen vertrockneten Etwas geschrumpft. Camilla war nicht lediglich unterwegs und würde im Laufe der nächsten Stunden zurückkehren. Das wurde mir in dem Moment bewusst, indem ich diese kleine Blume sah. Sie hatte Leno mitgenommen und das Dorf verlassen. Ich kannte sie nach all den Jahren die wir nun zusammen verbracht hatten, gut genug um zu wissen, dass sie fortgegangen war.

In den darauffolgenden Tagen hatte ich dennoch nach ihr Ausschau gehalten. Die wenigen Male in denen ich draußen war, um die Tiere zu füttern, flog mein Blick wie automatisch über die Hügel die um das Dorf herum lagen. Ein Teil in mir hoffte, dass sie ein paar Tage unterwegs sein und schließlich zurückkommen würde. Mit jedem weiteren Tag der verstrich, wurde dieser bereits winzige Funken Hoffnung jedoch immer kleiner. Ich verstand, aus welchem Grund sie gegangen war. Sie hatte ihr Zuhause verloren und fühlte sich in dieser plötzlichen Leere nicht wohl. Mir wäre es ebenso ergangen. Der schwarze Tod wanderte noch immer in den Häusern dieses Dorfes umher und es gab kaum noch einen Moment, in dem wir uns hier sicher fühlten.

Sie hatte demnach das Recht dazu, fortzugehen und sich ein neues Leben zu suchen. Ich wollte lediglich, dass sie in Sicherheit war. Nur sie hatte sich nicht verabschiedet, bevor sie gegangen war. Allein dies schmerzte mehr, als der Gedanke, dass ich sie nie mehr würde sehen können. Sie war fortgegangen, ohne ihre wichtigsten Gegenstände mitzunehmen oder mir Lebwohl zu sagen. Dies war etwas, wofür ich keine Begründung fand. Die Unsicherheit die ich seit Jahren mit mir herumtrug, versuchte mir einzureden, dass ich ihr doch nicht von so großer Bedeutung war, wie ich gedacht hatte.

Ich gab mein Bestes, diese auftretenden Zweifel zu ignorieren, doch sie schlichen sich immer wieder in mein Gedächtnis, wenn ich in einem kurzen Moment die Ruhe suchte. Nach nun mehr als vier Tagen war ich mir fast schon sicher, dass Camilla nicht mehr zurückkehren würde. Ich versuchte mich an diese Tatsache zu gewöhnen, doch es wollte mir nicht gelingen. Sie fehlte mir mit jedem Tag der verging nur noch mehr. 

Es war bereits später Abend, als ich das vertraute Geräusch von Hufen wahrnahm. Gerade hatte ich das Tor unseres Stalls hinter mir geschlossen und wollte den Weg zurück ins Haus antreten, um nicht noch länger als nötig draußen zu sein. Da drehte ich mich zu diesem Geräusch um und erkannte Leno, der zwischen den Häusern umhertrabte und schließlich an der Scheune stoppte, in der sein Stall untergebracht war. Ich zögerte keine Sekunde und lief mit schnellen Schritten in die Richtung des sehr aufgebracht wirkenden Pferdes. Umso näher ich trat, desto mehr wurde mir bewusst, dass Camilla nicht bei ihm war. Was im Endeffekt bedeutete, dass nach ihrem plötzlichen Verschwinden etwas geschehen sein musste.

Ich wollte noch nicht genauer darüber nachdenken und holte stattdessen einen halb zerbeulten Eimer aus der Scheune, um ihn mit Wasser zu füllen. Kurz darauf versank Leno's Kopf bereits darin und ich nutzte die Chance, während er ruhig stand, um ihn genauer zu betrachten. Sein Fell wirkte matt und deutete an einigen Stellen auf Kratzspuren hin. Ich nahm an, dass diese durch spitze Äste oder Ähnliches entstanden waren. Auch seine Beine waren betroffen, dort konnte ich zudem ein paar rötliche Stellen entdecken, die auf kleine blutende Wunden hindeuteten. Jedoch nichts, was mir große Besorgnis bereiten sollte.

Das, was meine Vermutung von einem plötzlichen Vorfall nach Camillas Verschwinden bestätigte, waren die Zügel, die zerrissen an Lenos Kopf herabhingen. Womöglich hatte er sich losgerissen und die Zügel waren ebenfalls durch die erahnten spitzen Äste zerstört worden. Es würde dennoch bedeuten, dass Camilla noch immer dort draußen war. Womöglich verletzt. An schlimmeres wollte ich gar nicht erst denken. Lenos Flanken bebten, als wäre er einige Kilometer panisch hierher zurück gerannt. Die Tatsache, dass er erst jetzt, vier Tage nach Camillas Verschwinden hier auftauchte, deutete ich als nichts Gutes.

Die Nächte wurden mit jedem Tag kälter und wenn sie nun wirklich dort draußen war, verletzt und vollkommen alleine, würde sie höchstwahrscheinlich nicht lange überleben. Einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, ihr zu folgen, in der Hoffnung, dadurch das Schlimmste zu verhindern. Dieser Gedanke verflog, als mir bewusst wurde, dass ich keinen blassen Schimmer davon hatte, in welche Richtung sie geritten war. Sie konnte bereits viele Stunden unterwegs gewesen sein, ehe Leno alleine den Rückweg angetreten hatte. So sehr ich es auch wollte, ich wusste, dass ich ihr in diesem Augenblick nicht würde helfen können.

Es dauerte einige Minuten, bis sich die Atmung des Hengstes wieder normalisiert hatte und ich ihm einen weiteren Eimer, diesmal jedoch mit Hafer, hinstellte. Ich blickte mich um und wie bereits erwartet, schien es niemanden zu wundern, woher Leno so plötzlich kam oder was sich hier abspielte. Die Wege zwischen den Häusern, die noch vor ein paar Wochen voller Leben gewesen waren, wirkten nun wie ausgestorben. Jeder, der sich aus dem Haus traute, musste zur jetzigen Zeit wohl lebensmüde sein. Möglicherweise war ich das. Camilla hatte mir mehr bedeutet, als ich zugeben wollte. Zu wissen, dass sie womöglich verletzt irgendwo umherirrte und in den Nächten zu erfrieren drohte, ließ mein Herz für einen Augenblick regelrecht stillstehen.

Nachdem Leno versorgt war und ich mir auch die Wunden einmal genauer angesehen hatte, die jedoch keine großartige Behandlung nötig hatten, brachte ich ihn vorsorglich in seinen Stall und trat schließlich mit langsam Schritten den Weg nach Hause an. Zögernd ließ ich meinen Blick wie so oft über die Hügel außerhalb des Dorfes gleiten, wohl mit der Hoffnung, dass sie genau wie Leno dort auftauchen und Hilfe brauchen würde. Die Hügel waren leer, ebenso wie das Dorf, welches seit einigen Tagen in ein unangenehmes Schweigen getränkt war.

Kurz bevor ich das Haus erreichte, in dem meine Familie seit Jahrzehnten lebte, bildete sich ein neuer Pfad ein meinen Gedanken, der mich augenblicklich zum Stoppen brachte. Camilla hatte damals die ihr entgegengebrachte Chance der beiden Fremden abgelehnt. Möglicherweise hatte sie sich umentschieden und sich auf den Weg zu ihnen gemacht. Immerhin hatten sie ihr ein neues Leben angeboten und wenn ich mich nicht irrte, war sie nun genau danach auf der Suche.

Es gab demnach die Möglichkeit, dass sie den Weg zu diesen Fremden gesucht hatte, um dort ein neues Leben zu beginnen, so wie sie es ihr angeboten hatten. Einerseits gab mir dies ein wenig Hoffnung, dass sie nicht in einer der letzten Nächte erfroren war, andererseits bedeutete dies auch, dass sie nun vollkommen auf sich gestellt bei zwei fremden Personen ein neues Leben begann. Ich war nicht dagegen, dass sie sich dies wünschte. Nur kannte ich diese beiden Männer nicht und Camilla bedeutete mir zu viel, als dass ich damit einverstanden gewesen wäre.

Ich hatte es ihr gegenüber nie erwähnt. Bereits als sie diese Männer zum ersten Mal getroffen und mir von diesem Angebot berichtet hatte, kam mir dies ein wenig seltsam vor. Dennoch war ich laut meines Wissens eine der wichtigsten Personen in ihrem Leben. Ich wollte nicht der Grund dafür sein, dass sie niemals ein Neues beginnen konnte, auch wenn ich bei diesen Männern kein gutes Gefühl gehabt hatte. Der Gedanke, dass sie nun wirklich bei ihnen sein könnte, gefiel mir demnach ganz und gar nicht. Aber wenn ich mit dieser Annahme richtig lag, warum war Leno wieder in solch einem Zustand zurückgekommen?

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt