Ein Teil der Familie

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Es war keine Woche, die uns noch blieb. Nachdem Jurian meine Vermutung bestätigt und ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, war unsere nächste Tat geradezu unausweichlich. Wir suchten ein paar Kleidungsstücke zusammen und die wenigen Gegenstände, die ich mein Eigen nennen konnte. Die nächsten Tage würde ich bei Jurians Familie unterkommen können. So hatte er es mir jedenfalls versichert. Auch wenn es mir unglaublich schwer fiel, meine Mutter in diesem Zustand in unserem Haus alleine zu lassen, doch umso länger ich darin wohnte, desto höher war das Risiko, selbst zu erkranken. Also blieb mir keine andere Wahl.

Aus diesem Grund saß ich nun am Fenster von Jurians Zimmer und blickte hinaus in die noch immer dunkle Nacht. Der Rest seiner Familie hatte von meiner Anwesenheit noch nichts mitbekommen, worüber ich auch recht froh war. Es würde vermutlich nicht lange dauern, bis das gesamte Dorf über die Geschehnisse Bescheid wissen würde. Ich konnte nur hoffen, dass sie mich nicht fortschicken würden. Denn wenn ich hier nicht würde bleiben können, gab es keinen anderen Ort, an dem ich unterkommen konnte.

„Sie wird die Nacht überstehen, Cami. Deine Mutter ist eine Kämpferin, genau wie du." Durch die Kerze neben mir auf dem Fensterbrett, konnte ich anhand der Spiegelung im Fenster erkennen, dass Jurian direkt hinter mir stand. Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Es war zu schnell passiert, als dass ich es wirklich realisieren konnte. Am vorigen Tag ging es ihr noch gut und nun stand sie dem Tod so nahe, als würde lediglich ein winziger Faden sie davor bewahren, in den Abgrund zu fallen. Meine Tränen waren vorerst versiegt, doch dabei würde es nicht bleiben.

„Du sollest versuchen noch ein wenig zu schlafen." Hörte ich Jurian sagen, schüttelte daraufhin jedoch nur leicht den Kopf. „Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn sie geht und ich seelenruhig schlafe." Daraufhin entstand wieder Schweigen zwischen uns, was ich aber als durchaus angenehm empfand. Es war nicht notwendig, dass wir durchgehend Worte miteinander wechselten. Wir verstanden uns, auch ohne verbal zu kommunizieren. Auf diese Weise blieben wir noch eine Weile gemeinsam dort am Fenster stehen, wobei mein Blick jedoch immer in die Richtung meines Hauses gerichtet war. Hoffend, dass ich sie nicht direkt in dieser Nacht verlor.

All dies hatte ich bereits mit meinem Vater erlebt, auch wenn ich damals deutlich jünger gewesen war. Ich erinnerte mich daran, dass wir zu dieser Zeit ebenfalls das Haus verlassen mussten, damit wir nicht diesem Risiko ausgesetzt waren. Auch mein Vater war ein Kämpfer gewesen, selbst wenn er seine eigenen Methoden dabei hatte. Laut der Aussage meiner Mutter, hatte er es fast eine Woche ausgehalten, bis er seine Kraft zum Weiterkämpfen verlor. Davon hatte ich selbst nichts mitbekommen. Ich war noch zu jung gewesen, als dass sie mich hätte täglich mit zu ihm nehmen können.

Viele Kinder und Ältere waren in dieser Zeit gestorben. Der schwarze Tod machte aber auch bei den vollends gesunden Menschen keine Ausnahmen. Damals hatten meine Mutter und ich ebenfalls hier Zuflucht finden können. Ich war jedoch noch klein gewesen. Unser Haus wurde in kürzester Zeit und in groben Maßen neu errichtet, sodass wir nicht lange bei Jurians Familie hatten unterkommen müssen. Kurz danach hatte es auch seine Familie getroffen. Es war daher schon fast absehbar, dass ich unser Haus irgendwann wieder neu würde errichten müssen.

„Denkst du, sie werden damit einverstanden sein?" fragte ich schließlich mit einem leisen Murmeln in Jurians Richtung, der jedoch nicht direkt eine Antwort darauf gab. Ich wusste, woran er in diesem Augenblick dachte. Dass ich mit ihm in Verbindung stand, war für seine Eltern in Ordnung, doch wohlgesonnen waren sie mir und meiner Mutter nicht. Aus diesem Grund vermied ich es in den meisten Fällen, ihr Haus zu betreten. Sie gaben uns die Schuld dafür, dass ihre Familie ebenfalls heimgesucht worden war. Laut ihnen, hatten wir den schwarzen Tod an sie weitergegeben, als wir bei ihnen Zuflucht gefunden hatten. Jurian teilte diese Meinung jedoch nicht.

Deshalb war ich mir nicht sicher, ob sie damit einverstanden sein würden, mich eine Zeit lang hier wohnen zu lassen. Meine Frage war demnach berechtigt. „Das müssen sie. Sie können dich nicht auf die Straße setzen, Cami." Diese Antwort sollte mir ein wenig Hoffnung schenken, doch meine Skepsis blieb bestehen. Unsere Familien hatten viel zusammen erlebt und durchgestanden. Ich war jedoch kein Teil ihrer Familie und wenn es um Leben und Tod ging, wäre ich die Letzte, um dessen Leben gekämpft werden würde.

Sobald das leichte Orange der Sonne über den Bergen erschien und unser Dorf mit jeder vergehenden Minute weiter in ein goldenes Licht tauchte, entschied ich, nach meiner Mutter zu sehen. Nur für einen kurzen Moment, damit sie wusste, dass ich bis zum Ende an ihrer Seite bleiben würde. Jurian hatte sich kurz vor Sonnenaufgang noch einmal ins Bett gelegt und schlief nun wieder wie ein Stein. Es wunderte mich gelegentlich, wie dies überhaupt möglich war. Ich verließ somit mit leisen Schritten das Zimmer und schloss die Tür wieder hinter mir.

Lediglich eine schmale Holztreppe trennte mich nun noch von der Haustür und somit von dem Weg, der mich direkt nach Hause führte. Mein unbemerktes Verschwinden lief allerdings nicht ganz so, wie geplant. Denn genau in dem Moment, in dem ich auf die letzte Treppenstufe trat und meine Hand bereits in die Richtung der Tür bewegte, erreichte mich eine Stimme, die ganz sicher nicht zu meinem besten Freund gehörte. „Camilla? Was machst du denn hier?" Wie es der Anstand in mir befahl, verließ ich daraufhin nicht kommentarlos das Haus, sondern wandte mich mit einem etwas unsicheren Lächeln auf den Lippen, der Frau zu, die nur wenige Meter neben mir aufgetaucht war.

Schon eine ganze Weile hatte ich sie nicht mehr aus der Nähe gesehen, doch die Ähnlichkeit zu ihrem Sohn war unverkennbar. „Guten Morgen Durettea.. Juri hat gestern etwas bei uns vergessen. Ich wollte es ihm nur schnell vorbeibringen, bevor ich mit der Arbeit beginne." Konstruierte ich eine fast schon glaubwürdige Lüge, damit sie nicht direkt erkannte, was hier vor sich ging. Ihre Reaktion wäre daraufhin womöglich anders gewesen. Sie blickte mich einen Moment skeptisch an, nickte mir dann aber kurz zu. „Richte deiner Mutter Grüße von mir aus." Ohne es zu wissen, stach sie dabei in dieser noch frischen Wunde herum und sorgte dabei dafür, dass wieder Tränen in meine Augen schossen. Denn wer wusste schon, ob ich ihr diese Grüße überhaupt noch überbringen konnte?

Nach einem kurzen Nicken verließ ich das Haus und war erleichtert darüber, dass sie mich einfach hatte gehen lassen und nicht noch mehr Fragen über mein plötzliches Auftauchen stellte. Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, sondern setzte meinen Weg nach Hause fort. In einer Sache, hatte ich bei meiner Aussage jedoch nicht gelogen. Die Tatsache, dass ich Zuhause noch einen Haufen Arbeit zu erledigen hatte. Denn nun, da meine Mutter nicht mehr würde helfen können, musste ich ganz alleine damit zurechtkommen.

Weshalb ich entschied, erst das Futter für die Tiere zu verteilen, ehe ich meiner Mutter einen Besuch abstatten würde. So wusste ich, dass ich alles Wichtige bereits erledigt hatte und meine Mutter nicht plötzlich alleine lassen musste, wenn sie mich am meisten brauchte. Nachdem ich meine täglichen Aufgaben außerhalb des Hauses weitestgehend erledigt hatte, betrat ich schließlich mit einem unangenehmen Gefühl in meinem Magen unser Haus. Die Angst in meinem Inneren sagte mir, dass ich zu spät kam und sie mich bereits in der Nacht verlassen haben musste.

Als ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, befürchtete ich, dass dies auch wirklich eingetreten sein musste. Denn ich hörte kein Geräusch von ihr. Nichts von dem schmerzverzerrten Stöhnen, welches mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, war zu vernehmen. Mein Puls beschleunigte sich automatisch, als sich die Vermutung meiner Angst zu bestätigen schien. Doch ich wollte mir sicher sein, bevor ich dies als Tatsache akzeptieren konnte. Weshalb ich ein paar Schritte näher an ihr Bett herantrat, so wie ich es in der Nacht zuvor bereits getan hatte.

Als ich im ersten Moment ihr Gesicht erkennen konnte, musste ich direkt den Blick wieder abwenden. Der anfangs noch recht kleine schwarz-blaue Fleck war in dieser kurzen Zeit deutlich größer geworden. Ich wusste, was dies zu bedeuten hatte. Die Infektion breitete sich unglaublich schnell aus, ihr blieb also nicht mehr viel Zeit. Ihre Augen waren geschlossen, was erst den Anschein machte, dass sie bereits nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Sie hatte sich keinen Zentimeter mehr bewegt.

Dann erkannte ich jedoch, dass sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte. Kaum erkennbar unter der dicken Decke, die sie vor der zunehmenden Kälte schützen sollte. Eine Welle der Erleichterung überfiel mich. Ichkam nicht zu spät. Es blieb nicht viel Zeit, doch ich konnte meine Mutter auf den letzten Metern ihrer Reise begleiten. Etwas, was mir bei meinem Vater nicht möglich gewesen war. Auch wenn es mir unglaublich schwer fallen würde, ich musste sie gehen lassen. Sie war trotz allem meine Mutter. Die einzige, die mir von meiner damaligen Familie geblieben war. 

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt