Eine kilometertiefe Schlucht

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Es war ein Anblick der puren Hölle, der sich mir dort bot. Nach diesen elendlangen Minuten, in denen ich bewegungsunfähig auf der Stelle gestanden hatte, setzte ich nun wieder langsam einen Fuß vor den anderen, um mich Kiyan zu nähern. Meine Handlung nahm er nicht einmal im Geringsten war. Als uns nur noch wenige Schritte voneinander trennten, flog eine weitere Vase nur wenige Wimpernlängen entfernt, an mir vorbei. Wäre ich nicht reflexartig davor zurückgewichen, hätte sie mich womöglich getroffen.

Nicht nur meine Atmung, auch mein Puls hatte sich beschleunigt, während ich meinen Weg in seine Richtung fortsetzte. Dieser Anblick war zu viel für mich. Ich wusste, dass er diesen Moment brauchte um einen klaren Kopf zu bekommen, doch es bereitete mir zu große Schmerzen, ihn auf diese Weise leiden zu sehen. Die letzten Meter bis zu ihm, legte ich mit schnellen Schritten zurück und legte dann in einem winzigen Augenblick meine Arme von hinten um seinen Oberkörper. Auch seine Arme hielt ich dabei umschlungen, wodurch es ihm nicht mehr möglich war, das restliche Zimmer zu verwüsten.

Seine Bewegungen hielten inne, als er meine Berührung wahrzunehmen schien. Doch plötzlich gab er einen markerschütternden Schrei von sich, der mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Dieser Schrei schien all den Schmerz zu beinhalten, den er in diesem Augenblick in seinem Inneren trug. Mehr, als ich jemals geglaubt hatte, zu kennen. Der Schrei verstummte und er fiel unter Schluchzen auf die Knie. Ich folgte ihm hinab zu Boden und dachte nicht einmal daran, meine Arme wieder von ihm zu lösen.

Die Unruhe in seinem Körper war verschwunden, doch stattdessen war die Trauer um seinen Bruder ans Licht gerückt. Die unendlich tiefe Trauer, die er zuvor versucht hatte zu verbergen. Ich lehnte meinen Kopf an seinem Rücken an, während das Schluchzen seinen Körper in Wellen überfiel. Dabei fiel mir auf, dass auch mir die Tränen in regelrechten Strömen über die Wangen liefen. Meine Trauer hatte sich automatisch seiner angepasst und war hervor getreten, sobald dies auch bei Kiyan geschehen war.

Schweigend saßen wir dort, während uns der Verlust unserer Liebsten regelrecht den Atem raubte. Ich spürte, wie Kiyan seine Hände auf meine legte, mit denen ich mich krampfhaft an ihm festhielt. Bereits eine Ewigkeit mussten wir dort auf diese Weise gesessen haben, bis mir bewusst wurde, dass sowohl mein, als auch sein Schluchzen versiegt war und die Stille des Raumes angenehm über uns lag. „Es tut mir leid.." Nur ein Flüstern seinerseits, welches mir jedoch verdeutlichte, dass er sich ebenso wieder ein wenig beruhigt hatte. „Es war nicht dein Verschulden, Kiyan." Gab ich ebenso leise als Antwort zurück. „Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie gehen."

Ich verstärkte den Druck meiner Arme um ihn und lauschte dem nun ruhiger werdenden Klang seines Herzens an meinem Ohr. „Wie hatte es so weit kommen können?" fragte ich schließlich leise, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. Er hatte sich eben erst wieder beruhigt, daher wollte ich seinen vorigen Zustand nur ungerne wieder provozieren. „Es war ein Hinterhalt." Er strich dabei sanft mit dem Daumen über meine Hände. „Aus irgendeinem Grund muss Mary gewusst haben, dass sie auf dem Weg zu ihr sind. Unsere Truppen haben sie wohl nicht einmal erreicht, als ihre Leute über uns herfielen."

Mir diese Bilder gedanklich vorzustellen, bereitete mir einen schmerzhaften Stich. Nicht nur einen Stich. Es zerriss mich innerlich. „Es tut mir unendlich leid, Kiyan" Hauchte ich leise, worauf von dem amtierenden König jedoch keine Reaktion folgte. Ich war mir sicher, dass er an seinen Bruder dachte. Das bisher Wichtigste in seinem Leben, was er nun verloren hatte. Ebenso wie seine Mutter zuvor. „Du solltest dich ein wenig ausruhen, Camilla. Es war ein langer Tag." Kam es schließlich murmelnd von ihm, ehe er seine Hände von meinen löste. 

„Ich werde nicht gehen." Sprach ich entschlossen aus, erntete dafür jedoch ein leises Seufzen. „Ich werde nachkommen, zuerst werde ich jedoch dieses Durcheinander wieder in Ordnung bringen müssen." Er löste sich aus meiner Umarmung und erhob sich langsam auf die Beine, ehe er sich zu mir umdrehte und mich an der Hand zu sich hinauf zog. „Ich werde Amalia bitten, sich darum zu kümmern." Bot ich an, woraufhin er lediglich den Kopf schüttelte. „Amalia ist fort." Verwirrt runzelte ich die Stirn. Bevor ich vor wenigen Stunden schnellen Schrittes die Eingangshalle betreten hatte, war sie noch in meiner Nähe gewesen.

„Fort?" fragte ich daher irritiert nach und er begann nachdenklich über meine Hand zu streichen, welche er noch immer umgriff. Sein Blick war stumm auf diese hinab gesenkt. „Ist sie gegangen? Das würde sie nicht tun.. nicht nach allem, was geschehen ist." Erneut folgte ein Kopfschütteln seinerseits, bis er seinen Kopf wieder anhob und sein Blick den Meinen kreuzte. Das Grau in seinen Augen wirkte trüb und dunkel. Es glich dem Meer bei einem stürmischen, eiskalten Wellengang. „Womöglich werde ich Calliope.." „Nein!" unterbrach ich ihn sofort, was ihn den Kopf ein wenig schief legen ließ.

„Jede andere, nur nicht Calliope." Ergänzte ich meine Unterbrechung, woraufhin ein fragender Ausdruck auf sein Gesicht trat. „Sie arbeitet mit Mary zusammen. Vermutlich hat sie ihr mitgeteilt, dass Phileas und Jurian auf dem Weg zu ihr sind. Das wäre die einzige Erklärung, woher sie dies hätte wissen können." „Vermutlich?" wiederholte er meine Worte und löste seinen Griff um meine Hand. „Du beschuldigst Calliope, aufgrund einer wagen Vermutung, der Mitschuld an dem Tod meines Bruders?"

Aus seinem Mund hörte sich dies deutlich grausamer an, als ich es selbst zuvor wahrgenommen hatte. „So habe ich es nicht ausdrücken wollen, es wäre nur keine gute Idee, sie noch länger in deiner Nähe.." Kiyan trat einen Schritt vor mir zurück und sein Blick machte deutlich, dass er nicht recht verstand, warum ich dies ansprach. „Hast du einen Beweis dafür, dass sie sich mit Mary verschworen hat?" Seine Stimme war nun glasklar, als wären die vorigen Momente niemals geschehen. Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens zwischen uns, schüttelte ich allerdings den Kopf.

Er hatte recht. Meine Annahme, Calliope würde mit Mary unter einer Decke stecken, wurde nicht von Beweisen gestützt. „Solange sie hier ist, werden sicherlich noch weitere grausame Dinge geschehen, Kiyan. Du könntest sie dem Schloss verweisen oder.." äußerte ich meine Ideen, in der Hoffnung, ihm dadurch einen Anreiz dazu zu geben, diese Frau aus dem Inneren der Mauern zu entfernen. „Ich bin nicht mein Vater, Camilla. Solange es für diese Anschuldigung keine Beweise gibt, wird sie weiterhin hier bleiben. So gerne ich dies umsetzen würde, für dich.. Ich werde sie nicht grundlos aus dem Schloss hinauswerfen."

Mit einem letzten verständnislos wirkenden Kopfschütteln, wandte sich Kiyan von mir ab, griff nach Phileas' Teddybären und verließ ohne ein weiteres Kommentar den Raum. Er war so schnell verschwunden, dass ich dies erst realisierte, als er bereits gegangen war. Ich hatte ihn trösten, ihm zur Seite stehen wollen. Stattdessen hatte ich seine Nerven nur noch weiter strapaziert und ihn mit Dingen belastet, die sicherlich noch ein paar Tage hätten unausgesprochen bleiben können. Ich bereute meine gesagten Worte zutiefst. Es fühlte sich wie eine kilometertiefe Schlucht an, die durch dieses kurze Gespräch zwischen mir und Kiyan aufgebrochen war.

Erneut den Tränen nahe, versuchte ich diesen erschütternden Gedanken in den Hintergrund zu rücken, so wie ich es bereits mit der Nachricht über den Tod meines besten Freundes getan hatte und widmete mich den zahlreichen Scherben, die sich auf dem Boden des Raumes angesammelt hatten. Ich hatte keine feste Aufgabe innerhalb des Schlosses. Doch ich brauchte etwas, womit ich mich vom Denken abhalten konnte. Etwas, was mich für eine Weile von den Dingen ablenken konnte, die mich innerlich aufzufressen versuchten.

Aus diesem Grund machte ich mich daran, mit äußerster Vorsicht die herumliegenden Scherben aufzusammeln und zu entsorgen. Kiyan würde sicherlich nicht versuchen wollen, diese wieder zusammen zu setzen. Weder er selbst noch die Bediensteten, hatten im Augenblick Zeit für solche regelrecht banalen Dinge. Ich ließ mir Zeit. Betrachtete dabei die einzelnen Scherben ein wenig genauer und achtete besonders darauf, mich nicht an diesen zu schneiden. Trotz unserer kleinen Meinungsverschiedenheit würde er nicht erfreut darüber sein, mich verletzt zu sehen. Nicht nach allem, was er heute erlebt hatte.

Mit ein wenig Zuversicht dachte ich daran, dass Kiyan spätestens in der Nacht zu mir zurückkehren würde. Sollte er dies nicht tun, würde ich nach ihm suchen. Wir beide hatten an diesem Tag einen der wichtigsten Menschen in unseren Leben verloren und wir benötigten nun ebenfalls beide eine Weile für uns selbst, um diese Tatsache zu verarbeiten. Ich würde Kiyan diese Zeit geben. Denn er stellte diese auch mir zur Verfügung, obwohl ich nicht einmal darum gebeten hatte. Sobald wir diese grauenvollen Nachrichten verarbeitet hatten und das Schloss wieder einigermaßen vernünftig aussah, würden wir wieder zueinander finden.

Die ZofeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt