Kapitel 26, die halbe Wahrheit

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Harry schließt seine Augen und stoßt einen langen Atem aus. Man kann nur noch den prasselnden Regen hören. Langsam lässt er meine Arme los, wobei er mit seinen Händen über meine Arme streicht. Er schaut mich ein letztes Mal an und dann dreht er sich schweigend um. Harry geht die lange Straße entlang und lässt sich von dem Regen nicht stören, genauso wie ich. Nun stehe ich wieder mal alleine gelassen hier im kalten Regen und schaue ihm hinterher. Schluchzend setze ich mich auf die Fußmatte. Meine Arme tun weh, aber der Regen stillt den Schmerz. Wieso musste er mich dazu zwingen? Ich wollte nicht mal Chaces Namen sagen. Auch Harrys Namen nicht. Ich wollte einfach keine Entscheidung treffen, wie sollte ich mich denn auch entscheiden können? Wieso bringt er mich überhaupt dazu, was ist sein Ziel? Was hat er damit jetzt erreicht? Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf, doch keine einzige Antwort. Chace sagt immer, dass ich Harry fragen soll was das Problem zwischen denen sei, doch er würde mir diese Antwort niemals geben. Ich habe Chaces Namen nur gesagt, damit Harry mich endlich loslässt, damit dieser Schmerz endlich ein Ende nimmt. Ich war so wütend auf ihn in diesem Moment, weil er mir so weh getan hat, dass ich nicht seinen Namen gesagt habe. Und jetzt ist er weg.

...

Erst eine halbe Stunde später betrete ich mein Haus. Sofort laufe ich in mein Zimmer, auf die Dusche kann ich heute auch verzichten, ist ja nicht mehr nötig. Ohne meine Haare zu föhnen, lege ich mich direkt ins Bett. Wenige Minuten später kommt jemand herein.

"Kann ich rein kommen?" , flüstert sie.

"Natürlich." , murmele ich.

Unauffällig ziehe ich die Decke über meine Arme, damit sie diese Flecken nicht sieht. Ich gehöre leider zu den Menschen, bei denen schnell Flecken bleiben. Allein wenn ich mich nur leicht kratze, entstehen sofort die roten Spuren.

Rose setzt sich auf mein Bett und ich verkrieche mich noch etwas weiter unter die Decke.

"Du bist ja voll nass. Geh doch mal deine Haare föhnen." , rät sie mir und fährt durch meine nassen Haare. Dabei fällt eine Strähne in mein Gesicht. Ich kichere.

"Ich bin total erschöpft, ich wollte eigentlich schlafen." , lüge ich.

Die Tatsache, dass ich wirklich erschöpft bin, ist zwar wahr, aber schlafen werde ich auf keinen Fall. Wie soll ich auch wenn meine Gedanken ständig woanders sind? Bei ihm sind?

"Aber du wirst krank." , murmelt sie.

"Na gut." , seufze ich und stehe auf.

Schnell nehme ich die Strickjacke auf meinem Stuhl und ziehe sie mir über. Stöhnend gehe ich ins Badezimmer und föhne meine Haare. Zweimal verbrenne ich meine Kopfhaut, weil meine Gedanken wie üblich woanders waren.

...

Liebes Tagebuch,

heute ist es passiert. Ich wusste es würde bald kommen, aber nicht so bald. Der Streit mit Harry, diese Entscheidung war vorhersehbar und weglaufen konnte ich davon auch nicht lange. Heute war es schließlich so weit. Ich habe mich entschieden, aber diese Entscheidung war spontan. Im Grunde wollte ich mich gar nicht entscheiden, aber Harry hat mir keine andere Wahl gelassen. Warum ist er so schnell wütend? So aggressiv? Ich habe mir gute Gründe überlegt, warum Harry eine Antwort wollte, aber ich habe keine Gründe gefunden. Er hat mir so weh getan, dass ich keinen anderen Ausweg gesehen habe, als zu antworten. In dem Moment war ich so wütend auf ihn, dass ich seinen Namen nicht gesagt habe. Und jetzt kann ich wieder nicht schlafen, weil ich an ihn denken muss und ich weiß nicht mal wieso ich mir solche Sorgen um ihn mache. Er ist wieder einmal nicht in sein Haus gegangen und sofort habe ich mich gefragt, ob er zu Pamela gegangen ist. Bestimmt. An den Stellen habe ich jetzt blaue Flecken und es tut höllisch weh, doch anstatt auf Harry wütend zu sein, mache ich mir um ihn Sorgen. Ich war kurz davor ihm hinterherzulaufen und ihn aufzuhalten, mich bei ihm zu entschuldigen, aber ich habe es nicht getan. Sollte er nicht derjenige sein, der sich bei mir entschuldigen muss? Nichtmal dafür, dass er mir zwei blaue Flecken verpasst hat, aber dafür, dass er mich zur Wahl gestellt hat. Dafür, dass er mir nicht mal einen Grund dazu gegeben hat. Dafür, dass er in der einen Minute so lustig und nett sein kann, und in der nächsten so wütend, dass er mich schon einschüchtert. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.

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