Kapitel 71, Irritation

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Ungewollt muss ich schmunzeln. Er schaut mich auffordernd an, seine Hand liegt immer noch auf dem Platz neben ihm, auf den ich mich hinsetzen soll. Ich stehe auf und trotze zu ihm rüber. Er rutscht etwas zur Seite, sodass ich genug Platz neben ihm habe. Unsere Arme berühren sich und es gibt mir seltsamerweise seine Wärme ab. Ich schiebe meinen Kopfkissen hinter mir etwas hoch, sodass ich gemütlich sitzen kann. Sein Blick wandert auf den Kissen und sofort weiten sich seine Augen.

"Du hast ihn immer noch." , sagt er überrascht.

Ich nicke leicht schüchtern. Warum sollte ich seinen Kissen auch nicht haben? Nicht nur, weil es von ihm ist und himmlisch nach Apfel riecht, sondern auch, weil er dafür meinen mitgenommen hatte. Ich frage mich, ob er den Kissen weggeschmissen hat. Schließlich war er mit Blut verschmiert. Als ich mich gemütlich hingesetzt habe, legt er das Eis auf meinen Schoß. Ich zucke leicht vor der Kälte zusammen, woraufhin ich sein leises Lachen höre.

"Hier." , sagt er und reicht mir den zweiten Löffel.

Ich nehme ihn dankend aus seiner Hand. Dabei streifen sich unsere Finger und ich fühle wieder dieses undeutbare Knistern zwischen uns. Es ist etwas, was ich noch nie zuvor erlebt habe. Geht es ihm genau so? Die Nähe zu ihm ist sowohl angenehm als auch unangenehm. Mein Herz flippt total aus, andererseits fühle ich mich sicher wie sonst.

"Erzähl." , fordere ich auf. Ich löffle das Eis, welches köstlich schmeckt. Ich glaube Eis ist das Einzige, dass ich auf dem gleichen Level wie Schokolade halten würde. Nichts kann die beiden übertreffen. Ich halte die Dose in seiner Augenhöhe um ihn zu fragen, ob er auch möchte, aber er schüttelt lächelnd den Kopf.

"Erzähl jetzt." , wiederhole ich.

Seufzend rückt er etwas vor, dann legt er sich quer auf mein Bett, sodass wir uns anschauen können.

"Ich habe mit dem Boxen mit sieben Jahren angefangen. Ic-"

"Mit sieben Jahren?" , frage ich unglaubwürdig.

Der Löffel fällt aus meinem Mund. Warum interessiert man sich schon so jung für das Kämpfen? Er schaut mich mit ausdrucksloser Miene an. Ich versuche von seinen Augen abzulesen, warum sich sein Gesichtsausdruck so plötzlich geändert hat, aber er lässt mich nicht durchsehen. Stattdessen fixiert er seinen Blick auf die Decke, die Hände auf dem Bauch verschränkt. Er atmet tief aus.

"Ich musste mich schützen können." , sagt er leise.

Ich lege den Löffel vorsichtig in die Dose, ehe ich es auf meinem Nachttisch abstelle. Die Art wie er diese Worte gesagt hat, löst ein komisches Gefühl in mir aus. Als hätten diese Worte viel mehr Bedeutung für ihn. Ich ziehe meine Beine an und setze mich dann im Schneidersitz hin. Mein Kopf gesenkt, sodass ich ihn anschauen kann. Sein Blick nach wie vor auf die Decke fixiert.

"Vor was?" , frage ich leise.

"Also hat Onkel für mich einen privaten Trainer arrangiert."

Er ignoriert meine Frage, aber ich lasse es zu. Vielleicht knüpft er da später an. Aufmerksam schaue ich ihn an. Sein Mund ist leicht geöffnet.

"Zunächst kam der Trainer nur einmal in zwei Wochen. Als ich acht Jahre alt wurde, kam er dann pro Woche einmal. Mit neun Jahren ist er dann zweimal die Woche gekommen. So ging es weiter, bis er jeden Tag gekommen ist."

"Hast du dich nie geweigert?" , unterbreche ich ihn.

Anfangs mag es ihm vielleicht Spaß gemacht haben, aber auf Dauer muss es ihn dann doch dann gelangweilt haben,oder? Ich könnte nie dasselbe jeden Tag wiederholen. Es ist, als würdest du nicht mehr etwas für dich tun, sondern weil du es einfach tun musst. Er schaut mich kurz an, dann wieder die Decke.

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