Kapitel 53, positiv und negativ

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Ich hebe nach langer Zeit später erst meinen Blick wieder hoch. Er hat mich die ganze Zeit auch beobachtet, und das macht mir die Sache etwas unangenehmer. Ich werde ständig beim Starren erwischt. Sogar Hanna hat mich erwischt, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe - ohne mich auch nur anzusehen. Anstarren ist mit Sicherheit etwas, was ich nicht drauf habe und etwas, was mich dauernd peinlich dastehen lässt. Er legt die Wasserflasche auf den Boden und zieht sich dann seine Boxhandschuhe wieder an.

"Können wir für heute nicht aufhören?" , frage ich erschöpft.

Diese paar Minuten durchboxen haben mir sowas von gereicht. Ich verstehe nicht, wie Harry bei einem Kampf so lange durchhalten kann. Ich bewundere das, aber ich werde ihm das nicht sagen. Er fühlt sich dann immer so stolz und setzt sich dann immer sein dämliches Grinsen auf. Die Tatsache jedoch ist, dass mir genau dieses Grinsen so weiche Knie bereitet.

"Natürlich nicht." , widerspricht Harry kopfschüttelnd.

Ich seufze und schaue ihn flehend an. Das Wasser hat mich zwar erfrischt, aber meine Energie ist trotzdem weg. Außerdem habe ich immer noch diesen blauen Fleck am Handgelenk, der mir teilweise noch Schmerzen bereitet.

"Ich bin verletzt, du darfst mich nicht überanstrengen." , erwidere ich in einem professionellen Ton, als wäre ich höchstpersönlich eine Ärztin.

Ausdruckslos schaut er mich an. Er hebt eine Augenbraue und schaut dann auf meine Hand, die durch den Handschuh verdeckt ist. Plötzlich schlägt er leicht mit seiner Hand gegen meine Hand und ich stoße einen Schrei aus. Beschützerisch nehme ich die eine Hand in die andere und schaue ihn geschockt an.

"Spinnst du?" , fauche ich.

"Das war kein Schmerzensschrei, du hast dich nur erschrocken. Und ich habe nicht einmal fest dagegen geschlagen, ich habe dich gerade mal berührt. Und außerdem haben wir beide diese Boxhandschuhe an, also wird es dir garantiert nicht weh getan haben." , sagt er ruhig.

Fassungslos schaue ich ihn an. Es hat tatsächlich nicht weh getan, aber trotzdem hätte er nicht dagegen schlagen müssen. Eine Berührung war das nämlich sicherlich nicht. Ich seufze und schaue ihn unglaubwürdig an.

"Wofür war das?" , frage ich.

"Um zu sehen, ob du Schmerzen hast. Und wie es sich heraus gestellt hat, wolltest du nur von meinem Unterricht entfliehen." , lächelt er. "Bin ich ein langweiliger Lehrer? Das glaube ich nämlich kaum." , fügt er schnell hinzu.

Ich will gerade dazu antworten, als er sich etwas runterbückt, sodass wir auf derselben Augenhöhe sind.

"Ich kann auch ganz andere Sachen unterrichten." , haucht er gegen mein Gesicht.

Ich schlucke und betrachte seinen Mund während er spricht. Er ist mir so nah und doch so weit. Wie ist sowas überhaupt möglich? Er raubt mir meinen Verstand und ich kann nichts dagegen machen. Ich habe total vergessen, was ich ihm an den Kopf werfen wollte.

"Was für Sachen?" , stottere ich.

Er kommt mit seinem Gesicht ganz langsam immer näher. Mein Herz klopft schon automatisch viel schneller und ich habe Angst, er würde meinen unregelmäßigen Atem schon bald mitbekommen. Ich brauche eine Therapie für meinen Körper, sonst wird er mich in naher Zukunft verraten. Sein Gesicht ist jetzt nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Mein Herz sagt mir, ich soll auf dem Fleck bleiben, aber mein Verstand ist dagegen. Er sagt mir, dass ich mich zurück ziehen soll. Und obwohl ich meinem Verstand folgen will, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich habe keine Kontrolle über meinen Körper, ich fühle mich gelähmt. Warum geht es ihm nicht so? Wieso kann er so locker damit umgehen? Hat er denn gar keine Gefühle? Nicht mal annähernd?

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