Kapitel 89, Abendessen

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Die letzten zwei Unterrichtsstunden habe ich nachgedacht, wie ich ihn sonst einladen könnte, aber mir fällt einfach nichts ein. Innerlich verfluche ich ihn. Wäre es nicht so wichtig mit ihm über die Sache mit Chace zu sprechen, dann würde ich ihn erst gar nicht einladen, aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Er ist so ein Idiot. 

Ich gehe seit einer Viertelstunde den Flur im Haus auf und ab, während ich versuche mein Hirn anzustrengen. Wer hätte gedacht, dass es vielleicht so schwierig sein würde? Dann schüttle ich meinen Kopf. Warum soll ich mir etwas kreatives ausdenken? Schnell ziehe ich mir meine Schuhe an und laufe raus. 

Eine Stunde später stehe ich vor seinem Haus. Ich hoffe er ist da, sonst verliere ich wirklich noch meinen Verstand. Ich bin froh, dass er mehr Zeit in seinem eigenen Haus verbringt, als in dem der Nachbarn. Würden sie das mitbekommen, dann könnte ich mich wahrhaftig nicht mehr blicken lassen. Ich klingel zweimal an seiner Tür, aber keiner macht auf. Etwas gereizt klingele ich ein drittes und ein viertes Mal, bis er endlich aufmacht. Ich lächle ihn gezwungenermaßen an, damit er nicht wieder auf die dumme Idee kommt, meine Einladung abzuschlagen. Er hat anscheinend neu geduscht, denn seine Haare sind nass und sein weißes T-Shirt klebt ihm am Körper, sodass sogar einige seiner Tattoos erkennbar sind. Als er mich sieht, fängt er an zu grinsen. Lässig lehnt er sich gegen den Türrahmen. 

"Föhn deine Haare, du wirst sonst krank." , fordere ich ihn lächelnd auf.

Sein Grinsen weicht ihm nicht von den Lippen. Er tritt einen Schritt zurück und ich betrete sein Haus. Ich strecke ihm die Rose aus, die ich hinter meinem Rücken versteckt hatte. Überrascht schaut er auf die Rose, dann zu mir und dann wieder zur Rose. Harry nimmt mir die Rose aus der Hand. Nervös bewege ich mich auf meinen Ballen auf und ab und warte dabei gespannt auf seine Reaktion.

"Also kreativ ist das ja nicht." , meint er.

Ich drücke die Augen zusammen und schaue ihn warnend an. Wenn er es jetzt auch abschlägt, dann kann er es vergessen. Die Sache mit Chace wird dann wohl warten müssen.

"Aber ich hatte heute eh nichts vor. Vorbeischauen kann ja nicht schaden." , grinst er.

Ich presse meine Lippen zu einer Linie und zwinge mich zu einem Lächeln. Gedanklich stelle ich mir vor, wie ich ihm eine verpasse.

"Föhn deine Haare. Am Ende wirst du krank und dann kannst du nicht zur Schule kommen und dann wirst du den Stoff verpassen und nicht mehr mitkommen können und dann has-"

Er unterbricht meine Aufzählung, indem er seine Hand auf meinen Mund legt. Dann atmet er laut aus.

"Immer mit der Ruhe. Du führst alles zum schlimmsten Fall." , sagt er langsam und deutlich. "Es ist Sommer und es ist warm. Ich föhne auf keinen Fall meine Haare." 

...

"Setz dich hin." , kommandiere ich ihn.

Leise fluchend, setzt er sich am Ende doch auf den geschlossenen Toilettensitz. Ich gebe es zu, ich mag dickköpfig sein und ihm dauernd widersprechen, aber jetzt ist es für sein Wohl. Ohne zu wissen wo der Föhn ist, öffne ich die weißen Schranktüren. 

"Nicht da." , murmelt er genervt. "Da auch nicht."

"Wo denn dann?" , frage ich.

Er zeigt mit dem Zeigefinger auf die Schranktüren unter dem Waschbecken. Ich schnappe mir den Föhn und stecke es in die Steckdose. Sofort geht der Föhn an. Grinsend gehe ich auf Harry zu und stelle mich zwischen seine Beine. Mit nassen Haaren schaut er anders süß aus, aber das werde ich für mich behalten. Grinsend tatsche ich durch seine Haare. Würde ich sie nicht föhnen, dann würde er sowieso nur rummeckern, wenn ich seine Haare anfasse und jetzt habe ich die Gelegenheit dafür. Verstehen tue ich sowieso nicht, warum er es nicht mag, wenn man mit seinen Haaren spielt. Mit einer Hand halte ich den Föhn und mit der anderen fahre ich durch seine Haare. Schnell kommen die Locken wieder zum Vorschein.

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