Kapitel 94, hasserfüllte Worte

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Ich schließe erleichtert meine Augen, als mir bewusst wird, dass wir ihn hinter uns zurückgelassen haben. Wenn er mich aufgehalten hätte, dann würde er es mit Sicherheit schaffen, meine Zweifel ihm gegenüber zu vernichten und mich erneut an seine Liebe zu binden. Alles ist für mich plötzlich so verschwommen, ich kann die Welt nicht mehr verstehen. Er hat mich nur ausgenutzt, doch für welchen Zweck? Um mich in sein Bett zu kriegen? Wenn das der wahre Grund ist, dann kann ich ihm wahrhaftig gratulieren. Er hat es geschafft - zweimal. Wie konnte ich das nicht sehen? Er hat das Spiel vor meinen Augen mit Pamela abgezogen und trotzdem bin ich in seine Falle getappt. Menschen warnten die Menschen schon immer, dass Liebe blind macht. Ich habe so viel Hoffnung in unsere Liebe gesteckt, aber Harry hat sie innerhalb weniger Sekunden vernichtet. Es heißt, wenn die Hoffnung stirbt, dann bleibt der Hass. Er ist so zerstört, dass er jeden Menschen in seiner Umgebung mit sich runterzieht. Jetzt ist es meine Aufgabe, den Anker, Harry, von mir zu lösen, damit ich nicht komplett mit ihm abtauche. 

"Wer hat dich denn traurig gemacht?" , ertönt eine tiefe Stimme neben mir.

Ich wische hastig die Tränen weg und drehe mich vorsichtig zu der Stimme neben mir. Ich habe gar nicht gemerkt, dass sich der ältere Mann neben mich gesetzt hat. Als ich eingestiegen bin, war der Bus noch halbwegs voll, doch nun sind nur wir zwei zurückgeblieben. Wie viele Stationen habe ich schon verpasst? Warum muss er sich ausgerechnet neben mich setzen, wenn alle Plätze frei sind? 

Ich fahre über meine Lippen, um den Salzgeschmack der Tränen zu verringern. Der dunkelhäutige Mann schaut geradeaus, dabei umspielt ein Lächeln seine Lippen. 

"Wer immer es auch war, zerbrich dir nicht den Kopf darüber." , rät er mir.

Ich schaue ihn schweigend an. Seine beiden Handflächen hat er auf seine Oberschenkel gelegt. Mit demselben Lächeln dreht er sich zu mir um und schnell wende ich meinen Blick ab. Ich schaue wieder aus dem Fenster, wie wir an Häusern vorbeifahren. 

"Hat ein Junge dir das Herz gebrochen?" , fragt er ruhig.

Ich drehe vorsichtig meinen Kopf zu ihm. Er schaut mich immer noch lächelnd an und langsam schüchtert er mich sogar ein, obwohl er ein freundliches Auftreten hat. Als er seinen Blick auch Sekunden später nicht von mir abwendet, nicke ich. Daraufhin erwidert der ältere Mann mein Nicken.

"Hast du ihm vertraut? War das für dich ganz unerwartet?" , fragt er.

In seiner Stimme liegt das gewisse Etwas, das mich beruhigt. Seine Stimme ist so sanft und doch sind seine Augen eher das Gegenteil. Sie schauen mich so an, als würden sie alles aus mir herauslesen können. Wieder nicke ich dem Mann zu und er atmet tief ein. Dann ertönt eine kurze, raue Lache seinerseits, als würde er mich verstehen können.

"Weißt du, Kleines, alles was mit Vertrauen beginnt, endet mit Verrat." 

Er lässt mich bei diesen Worte für keine Sekunde aus den Augen. Es ist, als hätte er mich in seinen dunklen Augen gefesselt. Während wir uns diesen intensiven Blickkontakt geben, denke ich über seine Worte nach. Wieder ziert dieses kleine Lächeln sein Gesicht, dann bricht er den Blickkontakt ab. Trotzdem kann ich meine Blicke nicht von ihm abwenden und als er dies zu bemerken scheint, wächst sein Lächeln. Als dann auf einmal noch tiefe Grübchen hervorstechen, muss ich scharf die Luft einziehen. Nicht nur seine Weisheiten, sondern auch sein Lächeln erinnert mich an Harry. Egal wo immer ich auch bin, er scheint mich zu verfolgen. Eine einzige Träne kullert wieder meine Wange herunter, als ich meinen Blick wieder aus dem Fenster würdige. Ich versuche mich zu orientieren, wo ich überhaupt bin, als ich ein leises Geräusch wahrnehmen kann. Stirnrunzelnd drehe ich meinen Kopf wieder auf die Seite und ich entdecke den dunkelhäutigen Mann dabei, wie er mit seinen Fingern auf beide Oberschenkel tippt. Vom Augenwinkel kann ich sehen, wie auch er seinen Kopf zu mir dreht und wieder treffen sich unsere Blicke. Schwer schluckend drehe ich mich augenblicklich wieder um. Merkwürdig, wie mich alles an Harry erinnert.

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