Kapitel 85, düstere Halle

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Als ich endlich zuhause ankomme, ist es bereits kurz vor 22:00 Uhr. Ich sitze alleine im Dunkeln auf dem Sofa und starre in die Leere, während mir mehrere Fragen durch den Kopf gehen. Ich suche nach einer möglichen Erklärung für diese unbeantworteten Fragen. Einer muss lügen, das ergibt einfach keinen Sinn. Ist seine Mutter nun bei seiner Geburt gestorben oder nicht? Harry kann es auch nicht wissen, da er es auch von seinem Vater erzählt bekommen hat. Einen seiner Söhne muss er also angelogen haben, doch welchen?

Ich schwanke zwischen zwei Meinungen hin und her - soll ich Harry davon erzählen? Schließlich geht es da um ihn. Andererseits sollte ich es auch nicht aufbringen, wenn nichts klares feststeht. Ich weiß genau, wie sehr ihn solche Sachen verletzen. Und das ist das Problem. Wenn Harry verletzt ist, dann wird er böse.

Ich schüttle unschlüssig den Kopf und denke an Harry. Er ist aus der Küche rausgestürmt und ich habe keine Ahnung, wo er hingegangen sein könnte. Hoffentlich hat er nichts angestellt. 

Ich muss für ihn diese Antworten herausfinden. Was ist, wenn seine Mutter tatsächlich nicht bei seiner Geburt gestorben ist? Wäre das nicht eine tolle Nachricht für ihn? Er verdient die Wahrheit. Bis ich etwas klareres herausgefunden habe, werde ich es vorläufig noch für mich behalten.

So sehr er mich heute wieder aufs Neue mit Pamela verletzt hat, kann ich nicht sauer auf ihn sein. Schließlich hat er mich davor gewarnt und mir öfter zu verstehen gegeben, dass da seinerseits nichts läuft. Ich liebe ihn und für mich gibt es kein stärkeres Gefühl als die Liebe.

Ich muss ihn sehen, jetzt sofort. Ich brauche seine Nähe und ich glaube, das hoffe ich jedenfalls, dass auch er mich jetzt braucht. Mit schnellen Schritten stürme ich aus dem Haus, ohne etwas anderes als meine Schlüssel mitzunehmen. 

Ich klingele bei meinen Nachbarn an und zum Glück öffnet mir Liam gleich die Tür.

"Hey Liam, ist Harry zuhause?" , frage ich direkt.

"Nein, er war den ganzen Tag nicht da." , antwortet er.

"Okay, danke."

Ich lächle ihn an, ehe ich die Stufen eilig runterspringe. Obwohl ich das Laufen über alles hasse, scheint es mir gerade keine schlechte Wahl zu sein. Ich freue mich, als ich für den Bus nur wenige Minuten warten muss.

...

Eine halbe Stunde später komme ich vor seinem Haus an. Ich laufe strahlend auf die Tür zu und hämmere wie wild dagegen an. Als nach ewigen Sekunden nichts passiert, betätige ich auch mehrmals die Klingel. Wo steckt er dann?

...

Ich habe ein mulmiges Gefühl bei der Sache, als ich vor der grauen Halle stehe. Wenn er hier auch nicht ist, dann weiß ich auch nicht. Ich bete innerlich, dass ich hier richtig bin, während meine Füße mich durch die Stahltür tragen. Die stickige Luft umkreist meine Nase, aber ich lasse mich davon nicht stören. Ich höre wie ein Sandsack geboxt wird und ich folge dem Geräusch. Nur ein einziges Licht brennt in dem ganzen Gebäude. Ich strahle über beide Ohren, als ich am Türrahmen stehen bleibe und Harry mit dem Rücken zu mir beobachte. Er springt leicht auf seinem Platz rum und boxt wie wild gegen den Sack, der schwingt und wieder zu ihm zurückkommt. Ist es seltsam, dass ich mich mit einem Sandsack vergleiche? Egal wie fest er mich von sich wegdrückt, ich finde jedes Mal meinen Weg zu ihm zurück. Sein T-Shirt klebt ihm am Körper und auch seine Haare sind nass geworden.

Ich räuspere mich um seine Aufmerksamkeit zu erhalten, doch er dreht sich nicht um.

"Ich bleibe noch." , ruft er.

Er macht eine kurze Pause, nur um mit dem Fuß diesmal weiterzumachen. Abwechselnd schlägt er mit beiden Füßen gegen den Sack, wobei er tiefe Stöhne von sich gibt. Er ist wirklich gut bei dieser Sache. Ein weiteres Mal räuspere ich mich, woraufhin er wütend seinen Kopf zu mir dreht. Als er mich entdeckt, werden seine Blicke sanfter und seine Mundwinkel zucken etwas in die Höhe.

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