Vor einem Jahr kennengelernt
Ab heute habe ich dich vor genau einem Jahr kennengelernt.
Ja, genau heute vor einem Jahr, habe ich zum ersten Mal deine roten, langen Haare gesehen, zum ersten Mal habe ich dir einen „Guten Morgen!" gewünscht, und zum ersten Mal habe ich dir einen Kaffee mit extra viel Zucker serviert.
Damals, vor einem Jahr, habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Du warst eine namenlose Kundin wie jede andere auch. Ein junges Mädchen, nicht viel jünger als ich, welches sich nach der Uni einen Kaffee bestellte, mit extra viel Zucker, und lernte - bevor es anschließend den Laden wieder verließ.
Morgen, vor einem Jahr, warst du das zweite Mal in meinen Laden gekommen. Ich hatte schlechte Laune. Ich hatte immer schlechte Laune, doch heute war sie ohne Grund noch schlechter.
Du nicht. Du sahst noch glücklicher aus als gestern. Und wieder bestelltest du einen Kaffee. Mit extra viel Zucker.
Wieder lerntest du, du lerntest so viel länger als gestern. Doch das bemerkte ich nicht, denn ich hatte dich gestern wieder vergessen, und auch heute bliebst du die namenlose, unbedeutende Kundin, unter vielen.
Doch dann, am nächsten Tag, kamst du wieder in meinen Laden. Und dieses Mal bemerkte ich dich. Du setztest dich wieder an den Tisch, hinten links, an das große, dreckige Fenster, welches ich dringend mal wieder putzen müsste.
Wieder lächeltest du fröhlich. Deine roten Haare strahlten im Licht der Sonne fast selbst so hell wie Flammen. Und wieder bestelltest du einen Kaffee. „Mit extra viel Zucker?", hatte ich gefragt. Aufgeregt nicktest du, als wärst du froh darüber, dass ich mich an deine Kaffee-Vorlieben erinnerte.
Von diesem Tag an bemerkte ich dich jeden Tag. Du hattest dich jeden Tag an ein und dieselbe Stelle gesetzt, und jeden Tag hattest du fleißig gelernt. Jeden Tag hattest du dir einen Kaffee gewünscht, und mich überglücklich angestrahlt, als ich mich an deine Bestellung erinnerte.
Ich kannte deinen Namen nicht. Ich wollte ihn auch nicht wissen. Du warst das Mädchen, das jeden Tag zu mir in den Laden kam, und lernte. Das Mädchen mit den feuerroten Haaren. Und das bliebst du, sehr, sehr lange.
Das bliebst du auch drei Monate später.
Unter der Woche hattest du nie einen Tag ausgelassen, um bei mir Kaffee zu bestellen, und zu lernen. Deinen Namen wusste ich immer noch nicht, doch mittlerweile wusste ich, dass du Medizin studiertest. Das wusste ich, seit dir mal deine Unterlagen heruntergefallen waren, und ich dir geholfen habe, sie aufzuheben. Du hattest dich so überschwänglich bedankt, und dich so ernsthaft entschuldigt, dass ich es im Nachhinein bereut hatte, dir geholfen zu haben. Doch seit diesem Tag wusste ich, dass du Medizin studiertest. Ich hatte auch bemerkt, dass du ungern ruhig saßt. Du änderstest deine Position nach jedem Schluck Kaffee. Und du trankst alle 3 Minuten einen Schluck deines Kaffees.
Mittlerweile musstest du mir deine Bestellung nicht mehr sagen. Ich wusste wann du in meinen Laden kamst, und so stellte ich den Kaffee meistens schon für dich bereit. Auch den Tisch hielt ich frei. Eventuell hatte ich sogar angefangen, mich über deinen Besuch zu freuen.
Doch deinen Namen, den kannte ich immernoch nicht.
Du warst das Mädchen mit den roten Haaren, welches immer ein Lächeln auf den Lippen trug. Mir fiel auf, dass es etwas schief war, und deine Haare manchmal mehr orange wirkten, als rot.
Manchmal sahst du müde und erschöpft aus vom vielen lernen. Manchmal warst du durcheinander oder verwirrt. Doch lächeln tatst du immer - ganz egal, wie genervt und griesgrämig ich reinschaute, oder wie viel du lernen musstest.
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Gedankennebel
Short StoryDu liest gerne Kurzgeschichten mit verschiedensten Themen? Und das umgesetzt auf unterschiedlichster Art? Du interessierst dich für die abwechlungsreiche Mischung verschiedener Schreibstils, Inhalte und Genres? Dann ist dieses offizielle Buch vom Wa...