Sie sind die Schatten in der Finsternis. Hütet euch vor denen, die da wandeln im Unlicht des Tages. Wenn die Dunkelheit am tiefsten ist, wenn das Licht der Sonne vor den Schatten flieht, wenn die Sonne und der Mond ihr Antlitz vereinen, dann nehmt eure Liebsten, eure Familie, eure Kinder und lauft.
Das waren die Worte des alten Mannes gewesen. Seine zittrige Hand lag auf Veronicas Schulter und die junge Frau hatte ein verlegenes Lächeln aufgesetzt, während sie versuchte ihre weiße Bluse den schmutzigen Fängen des Mannes zu entziehen. "Was meint er damit Mama?", fragte Joel seine Mutter mit echter Sorge in seinem kindlichen Gesicht. Veronicas linke Hand hielt die ihres Sohnes, während die rechte einige Münzen in die vor dem Mann aufgestellte Schale fallen ließ. Sie spürte wie Joels Griff bei den Worten fester wurde, er klammerte in dem Bemühen nicht zu zittern.
"Der nette Mann ist nur etwas verwirrt Joel.", sie nickte dem Obdachlosen daraufhin zu und schüttelte dessen Griff diesmal etwas vehementer ab. Sie bereute bereits jetzt ihr gutes Herz und war ebenfalls etwas erschrocken von den Worten und umso mehr dem plötzlichen Griff des Mannes. Seine Augen starrten sie derweil an, voll Traurigkeit und Bedauern, voll Mitleid und Erinnerungen. Dennoch senkte er nun seinen Blick und schüttelte den Kopf, als er widerwillig von der jungen Mutter abließ.
Sie erhob sich und schaute abermals auf den Bettler herab, auf die dreckige Flickendecke, die der Mann unter sich ausgebreitet hatte. Neben ihm lehnte ein Schild an der Wand der Good Life Investments Bank, in der ihr Mann arbeitete. "Doom is near!!!", prangte in großen Lettern auf der Pappe des Schildes. Veronica vermutete, dass die Pappe von dem versifften Karton abstammte, welcher nur wenige Meter weiter als eine Schlafstätte für den Bettler zu dienen schien. Er hatte also einen geschickten Weg gefunden, den Karton vielfältig zu verwenden. Zudem war sie sich ziemlich sicher, dass es sich bei der 'Farbe' eigentlich um Ketchup handelte. Als zusätzlichen Beweis dafür sah sie die Reste von Fastfood im Schoß des Mannes. Er war offensichtlich ein Improvisationstalent, aber das hatte ihn nicht vor der Straße gerettet. Ihr Sohn würde so sicher nicht enden.
"Einen schönen Tag ihnen noch", sagte sie nun mit einem erneuten Nicken und zog Joel mit schnellen Schritten durch die kleine Gasse, während es um sie herum langsam dunkler wurde. Der Junge hatte hier für einen Tag mehr als genug schlechten Einfluss erleiden müssen und sie mussten sich beeilen um, wie geplant, als Familie die Sonnenfinsternis beobachten zu können.
Die Gasse führte zu dem Parkplatz hinter dem Bankgebäude und sie konnte bereits sehen, dass ihr Mann am Auto auf sie wartete. Er war am Handy und versuchte vermutlich bereits sie zu erreichen. Da sie das Telefon zu Hause vergessen hatte, würde sie sich wieder anhören müssen, dass sie nie erreichbar war.
Im schwindenden Licht der Sonne erkannte Veronica dann plötzlich eine Bewegung oberhalb ihres Mannes, auf der Feuerleiter. Da die Sonnenfinsternis bereits eingesetzt hatte, war es zu dunkel, um etwas genaues zu erkennen, aber sie war sich sicher eine Bewegung gesehen zu haben. Vielleicht eine Katze?
Ihr Mann hatte derweil aufgelegt und schaltete nun die Taschenlampe seines Handys ein, aber das Licht glich eher einem widerspenstigen Flackern. Veronica erschrak, als sie sah, wie etwas von der Feuerleiter hing. Einem Akrobaten gleich hangelten lange Beine von der Plattform herab. Sie waren eben so dünn wie die Arme der Kreatur, geradezu zerbrechlich wirkten beide und endeten in scharfen Klauen, die eher Spinnenbeinen denn Fingern glichen. Als diese sich um den Kopf ihres Mannes schlossen, wollte sie Schreien, doch ihr Mann kam ihr zuvor, nur für einen Moment.
Sein Schrei erstickte, als die Kreatur den Mann zur Wand riss, in einen Spalt der aus dem Nichts erschien. Ein Riss in der Realität. Das Wesen blickte zu der Frau, sein Körper ein einzig großes Auge an das seine knochigen Gliedmaßen anschlossen. Seine Haut ledrig, schwarz, ein tiefes Schwarz... es war als zöge es das Licht aus der Umgebung. Das riesige Auge zwinkerte einmal, sein Blick schwenkte zu Joel, ehe es schließlich in den Riss sprang und mit Veronicas Mann verschwand. Nur das flackernde Handy hatte es zurückgelassen. Die Sonnenfinsternis endete, doch für Veronica und ihren Sohn endete viel mehr, ihre Realität war für immer eine andere.
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Gedankennebel
Cerita PendekDu liest gerne Kurzgeschichten mit verschiedensten Themen? Und das umgesetzt auf unterschiedlichster Art? Du interessierst dich für die abwechlungsreiche Mischung verschiedener Schreibstils, Inhalte und Genres? Dann ist dieses offizielle Buch vom Wa...